Hagen. . Inge B. ist tot. Ihr Mann erhebt Vorwürfe gegen den Rettungsdienst der Feuerwehr. „Wenn die sofort gekommen wären, würde meine Frau noch leben“, sagt er. Der Fall zeigt, wie schwierig es für Mitarbeiter der Feuerwehr-Leitstelle ist, lebensgefährliche Situationen von banalen Erkrankungen zu unterscheiden.
28. Januar. Inge B. hatte sich nach dem Abendessen zu Bett gelegt, aber, laut ihrem Gatten, bereits vorher schon starke Schluckbeschwerden gehabt. Röchelnd hatte sie Schleim ausspucken müssen. Gegen 22 Uhr bittet sie ihren Mann: „Ruf den Notarzt.“
„Ich habe dann 112 gewählt und dort den Sachverhalt erklärt“, sagt Heinz B. Der Mann am anderen Ende der Leitung habe daraufhin gefragt, ob Heinz B. schon den Hausarzt angerufen habe. „Nachdem ich erklärt habe, dass man wohl um 22 Uhr keinen Hausarzt mehr erreicht, hat man mir den Rat gegeben, die Nummer 116 117 anzurufen. Die Dame, die unter dieser Nummer abhob, versprach mir, einen Arzt zu informieren. Es könnte aber dauern, weil der Arzt in Bochum seine Praxis hat.“
Arzt kommt nach 3 1/2 Stunden
Um 1.30 Uhr – dreieinhalb Stunden nach dem Anruf – klingelt der Arzt endlich an der Tür, hört Inge B. ab und verschwand wieder. Diagnose: Schleim, aber freie Lunge. Sechs Stunden später, um 7.30 Uhr, hört Inge B. plötzlich auf zu atmen. Wieder ruft ihr Mann die „112“ an. Diesmal kommt der Notarzt binnen weniger Minuten und bringt Inge B. ins Krankenhaus. Sie stirbt dort rund 24 Stunden später. Ihr Mann sagt: „Man hätte ihr doch nachts nach meinem ersten Anruf schon das Leben retten können. Wieso ist der Notarzt nicht gekommen?“
Luftnot ist für Leitstelle Alarmsignal
Was ist banal und was ist lebensgefährlich? Es ist die Aufgabe der Mitarbeiter in der Leitstelle, innerhalb von 60 Sekunden herauszufinden, ob der Notarzt ausfahren muss oder nicht. Ein Indikator, der auf eine lebensgefährliche Situation schließen lässt, ist die Luftnot. Weitere Anzeichen, die auf Lebensgefahr schließen lassen: Kollaps eines Menschen, keine Reaktion auf Ansprache, Bewusstseinsveränderung/Sprachstörungen, plötzlich auftretende Lähmungen von Armen oder Beinen, Brustschmerzen, Luftnot (insbesondere, wenn sie das Sprechen behindert), Schmerzen im Bauchraum und schwerere Verletzungen.
„Wir werden niemals fehlerlos sein bei unserer Arbeit“, sagt die Leitende Notärztin Katrin Hoffmann, „wir haben den Anspruch an uns selbst, mit dem Rettungswagen 90 Prozent aller Hilfeersuchen innerhalb von acht Minuten zu erreichen.“
Zwei Fahrzeuge im Dauereinsatz
In Hagen sind rund um die Uhr zwei Notarzteinsatzfahrzeuge (NEF) im Dienst. Von 8 bis 20 Uhr ist das NEF aus Letmathe für den östlichen Stadtbereich mit eingebunden. Zusätzlich wird 24 Stunden lang ein Leitender Notarzt für Ereignisse mit mehreren Verletzten und Erkrankten vorgehehalten, der mit einem eigenen Einsatzfahrzeug ausgerüstet ist. Damit ist das gesamte Stadtgebiet – so zeigt die Erfahrung der vergangenen Jahre – ausreichend abgedeckt.
Anders als zum Beispiel in den USA, wo es mit der „911“ eine einheitliche Notruftelefonnummer gibt, hinter der nach einem Notruf Mechanismen in Gang treten, die der Anrufer nicht bemerkt, ist das Hilfeleistungssystem in der Bundesrepublik vielfältig. Es gibt den Rettungsdienst der kommunalen Daseinsfürsorge, der durch Kreise oder kreisfreie Städte zu betreiben ist und der für akute Notfälle (insbesondere lebensbedrohlicher Art) und den nicht-zeitkritischen Krankentransport zuständig ist (112). Die Fahrzeuge des Rettungsdienstes sind sowohl von ihrer technischen Ausrüstung als auch von ihrer personellen Besetzung in der Lage, akut lebensbedrohliche Erkrankungen vor Ort zu behandeln und den Patienten in ein geeignetes Krankenhaus zu befördern.
Inge B. war nicht mehr mobil
Der ärztliche Bereitschaftsdienst (116 117) wird außerhalb der Sprechstundenzeiten von niedergelassenen Ärzten geleistet, die über keine notfallmedizinische Ausstattung verfügen. Sie sind für nicht akut lebensbedrohliche Erkrankungen wie akute Atemwegsinfektionen oder Rückenschmerzen und andere Probleme zuständig. Der Bereitschaftsdienst ist seit etwa zwei Jahren nicht mehr lokal, sondern in größeren Zuschnittsgebieten organisiert, ist dafür aber jetzt immer außerhalb der Sprechstundenzeiten erreichbar.
Das Hagener Einzugsgebiet reicht bis nach Herne. Bis 22 Uhr ist für Patienten, die außerhalb der normalen Praxisöffnungszeiten dringend einen Arzt benötigen, die zentrale Notfallpraxis in der Grünstraße 29 geöffnet. Nach 22 Uhr wird die Versorgung für diese Patienten dann vom Allgemeinen Krankenhaus übernommen. Inge B. war nicht mehr mobil. Sie war auf Hilfe in ihren eigenen vier Wänden angewiesen.
600 Anrufe am Tag
Für die Kollegen der Feuerwehrleitstelle war der Anruf von Heinz B. an diesem Abend einer von rund 600 Anrufen, die täglich in der Leitstelle eingehen. „Die Kollegen, die dort sitzen, sind Feuerwehrbeamte und geschulte Rettungsassistenten“, sagt Katrin Hoffmann, ärztliche Leiterin des städtischen Rettungsdienstes.
60 Sekunden Zeit bleiben den Kollegen, darüber zu entscheiden, ob eine lebensbedrohliche Situation oder ein Fall vorliegt, der an den ärztlichen Bereitschaftsdienst verwiesen werden kann. „Das ist die hohe Kunst des Disponenten in der Leitstelle“, sagt Hoffmann, „die Kollegen stellen gezielte Fragen und versuchen die Situation in der kurzen Zeit exakt einzuordnen.“
Geschultes Personal
So geschah es auch im Fall von Inge B. Die Leitstelle entschied anhand der Schilderung des Gatten: kein unmittelbar lebensbedrohlicher Notfall. Man gab Heinz B. die Nummer des hausärztlichen Bereitschaftsdienstes. „Auch wir haben medizinisch geschultes Personal“, heißt es aus der Pressestelle der Kassenärztlichen Vereinigung. Das Zuschnittsgebiet, in dem Inge B. lebt, erstrecke sich von Castrop-Rauxel über Herne und Witten bis nach Hagen. In Spitzenzeiten seien in dem Bereich bis zu sieben Fahrzeuge unterwegs, mindestens aber immer zwei. In der Nacht des 29. Januars brauchte der Fahrdienst allerdings dreieinhalb Stunden, bis er endlich bei Inge B. ankam, die Patientin untersuchte und sie letztlich im häuslichen Bereich beließ.
„In der Nacht hat für uns keine akute Notfallsituation vorgelegen“, sagt Katrin Hoffmann. Die Entscheidung, an den hausärztlichen Notdienst zu verweisen, sei richtig gewesen. „Die Situation am Morgen danach musste wieder völlig anders bewertet werden“, sagt Hoffmann.
Inge B. ist tot. „Ich bin mir sicher, man hätte ihr helfen können“, sagt ihr Mann Heinz, „wieso ist niemand sofort gekommen?“