Hagen. Tim Sturm (18) will in wenigen Tagen versuchen, ein Menschenleben zu retten. In einer Kölner Klinik wird er Knochenmark für einen fremden Menschen spenden. Doch vor der Entnahme warten einige kleine Nebenwirkungen auf Tim Sturm.

Ab heute wird er denken, er hätte Grippe. Er wird sich schwach fühlen, müde sein. Und jede weitere Spritze, die er sich in den Bauch pikst, wird die Symptome verstärken. Tim Sturm macht sich innerlich quasi krank, um einen fremden Menschen gesund zu machen. Wenn am kommenden Dienstag ein Zellseparator die wichtigen Stammzellen aus seinem Blut filtert, macht ein todkranker Mensch wenige Stunden später mit einer Injektion wahrscheinlich den nächsten Schritt zur Rettung seines Lebens. „Ich will einem Menschen das Leben retten. Alles andere interessiert mich nicht.“ Tim Sturm – bewundernswert nachahmenswert.

Dieses Thema ist so groß, so vielfältig und hat so viele medizinische Aspekte, dass man eine ganze Serie über Leukämie und Knochenmarksspenden erscheinen lassen könnte. Und doch kommt es zwischen all den Studien, den Erhebungen und den Expertisen vor allem auf etwas an, was man nicht studieren, erforschen oder erlernen kann. Auf Menschen, die bereit sind, bedingungslos für andere einzustehen. Auf Menschen wie Tim Sturm.

Anruf von der DKMS

Der junge Mann absolviert eine Ausbildung zum Verfahrensmechaniker bei C. D. Wälzholz. Das ist eine wichtige Randinfo, denn als solcher ist er Schüler des Cuno-Berufskollegs, wo im vergangenen Jahr eine in der ganzen Stadt viel beachtete Typisierungsaktion stattfand.

Große Heilungschancen

Bei einer Leukämie entarten Zellen und verhindern, dass im Knochenmark eine normale Blutbildung stattfindet. Leukämien zeichnen sich durch stark vermehrte Bildung von weißen Blutzellen ihrer funktionsuntüchtigen Vorstufen aus.

Für eine Übertragung von Knochenmark- oder Stammzellen müssen bestimmte Gewebemerkmale, die HLA-Faktoren, bei Spender und Empfänger exakt übereinstimmen. 25 Prozent der Patienten finden einen Spender in der Verwandtschaft, die meisten benötigen Hilfe aus der Bevölkerung.

So funktioniert die Spende bei einer akuten Leukämie-Form: Chemotherapien töten die kranken Zellen im Knochenmark ab und unterdrücken das Immunsystem, um Abstoßungsreaktionen nach der Spende zu verhindern. Anschließend bauen die gespendeten Blutzellen ein neues Blutbildungs- und Immunsystem auf. Bei 40 bis 70 Prozent der betroffenen Patienten verläuft die Behandlung erfolgreich.

Der Bruder eines Cuno-Schülers war an Leukämie erkrankt. Hunderte Mitschüler drückten ihre Solidarität damals aus und ließen sich typisieren. „Für den Bruder des Mitschülers kam ich leider nicht infrage“, erinnert sich Tim Sturm.

Dafür klingelte im vergangenen Oktober plötzlich sein Handy. Die Deutsche Knochenmarkspenderdatei (DKMS) war dran. „Ich wurde gebeten, noch mal eine Feintypisierung machen zu lassen. Ich sei im engeren Kreis für eine mögliche Spende“, sagt Sturm. Weitere drei Monate später steht fest: Tim Sturm kommt für einen an Leukämie erkrankten Menschen als Spender infrage.

Operationen kaum noch erforderlich

Um das Thema Knochenmarkspende ranken sich unglaublich viele Vorurteile. Eines davon ist, dass die Entnahme mit Schmerzen verbunden sei und der Spender eine schmerzhafte Prozedur an einem empfindlichen Teil der Wirbelsäule über sich ergehen lassen muss. Tatsächlich aber ist das Verfahren der Entnahme heute schonend, eine Operation eine Seltenheit.

Tim Sturm hat sich für die periphere Stammzellenentnahme entschieden. Die Spende wird mit einem Zellseperator, ähnlich wie bei einer Dialyse, entnommen. Der Zellseparator trennt durch Zentrifugalkraft das Blut in die einzelnen Bestandteile auf und macht es möglich, die Stammzellen aus dem Blut zu sammeln. Sechs Stunden wird das etwa dauern. Ein operativer Eingriff, bei dem Knochenmark aus dem Beckenkamm entnommen wird, kommt nur infrage, wenn die periphere Entnahme keinen Erfolg haben sollte. „Das ist aber nur noch in ganz wenigen Fällen überhaupt erforderlich“, sagt Sturm.

Mit einer Typisierungsaktion am Cuno-Berufskolleg fing alles an. Hier ließ sich Tim Sturm in die Spenderdatei aufnehmen.
Mit einer Typisierungsaktion am Cuno-Berufskolleg fing alles an. Hier ließ sich Tim Sturm in die Spenderdatei aufnehmen. © WP Michael Kleinrensing

Empfänger wird erst nach zwei Jahren bekannt gegeben

Um ein Menschenleben zu retten, spritzt er sich bis Dienstag zweimal täglich einen Wachstumsfaktor unter die Haut, der die Stammzellen zur Teilung anregt und dafür sorgt, dass sie ins Blut geschwemmt werden. Die „Nebenwirkungen“: Grippeähnliche Symptome, Schwäche, Müdigkeit, Schmerzen im Beckenknochen. „Das nehme ich in Kauf, wenn ich helfen kann. Das ziehe ich jetzt durch.“

Wem wird er helfen? Wer darf mit den gesunden Zellen aus Sturms Blut darauf hoffen, dass sein oder ihr Leben verlängert wird? „Das erfahre ich erst nach rund zwei Jahren“, sagt Sturm. Wenige Tage nach der Spende erfährt er immerhin das Alter, das Geschlecht und das Land, in dem der Empfänger lebt. „Eigentlich ist es egal, wer die Spende bekommt. Aber ich würde mich freuen, wenn sie einem Kind helfen würde“, sagt der 18-Jährige.

Umfangreiche Voruntersuchungen

Tim Sturm wird seine Spende am kommenden Dienstag in der Media-Park-Klinik in Köln abgeben. Das Zentrum für Zellgewinnung „Cellex“ organisiert Voruntersuchungen und die Entnahme.

Zu den Voruntersuchungen gehören eine Blutprobe, ein EKG, eine Ultraschalluntersuchung und die mehrtägige Verabreichung eines Medikaments zur Stammzellmobilisierung.

Bei der Entnahme gibt man etwa so viele Stammzellen ab, wie Blut bei einer normalen Blutspende.

Mehr als 9200 Menschen erkranken jedes Jahr in Deutschland an Leukämie. Rund 4,5 Mio. potenzielle Spender sind aktuell erfasst. Einer von ihnen ist Tim Sturm. Einer, der bedingungslos für andere Menschen einsteht.