Hagen-Buschey. Ein Reporter mischt sich unter die Spätschicht in der Ambulanz des Allgemeinen Krankenhauses. Die Behandlungsräume sind voll, es ist viel zu tun. Eine besondere Arbeit zwischen Menschen, Dokumenten und Zeitdruck.
Das hier war keine kreative Idee von mir. Das hier ist ein Ball, den ich weggetreten habe und der nun zu mir zurückgespielt wird. Ich war stinkig, weil ich mich nach einem Handbruch in der Ambulanz des Allgemeinen Krankenhauses schlecht behandelt fühlte. Ich habe darüber geschrieben. Dann hat das AKH mich eingeladen. Wir haben uns ausgesprochen, die Dinge geklärt. Und nun stehe ich hier. In einem grünen Kasack. Ich bin Praktikant für einen Abend. Mit den schlechtesten Voraussetzungen, die man dafür nur haben kann.
1. Ich kann kein Blut sehen.
2. Ich kann nicht sehen, wie jemand eine Spritze kriegt.
3. Bei Knochenbrüchen kippe ich eigentlich sofort um.
Nichts davon wird am Ende meiner Schicht mehr von Bedeutung sein. Nur die Erkenntnis, dass ich eines definitiv nicht will: mit irgendjemandem hier tauschen.
Es ist 18.05 Uhr an diesem Abend. Ich hänge mich an die Fersen von Dr. Susanne Schwarze, die gerade einen jungen Mann in Empfang nimmt, der auf dem Weg von der Arbeit nach Hause bitterböse umgeknickt ist. Der Laie lässt sich schnell verwirren und macht die folgende Rechnung auf: Wer seine Schmerzen sehr laut hat, ist näher am Knochenbruch als andere.
Pustekuchen. Eine Spritze und ein Röntgenbild später steht die Diagnose. Nichts gebrochen, nur überdehnt. Obwohl man das von anderen nie hören will, wenn man sich verletzt hat, sage ich es trotzdem: Hatte ich auch schon mal.
Tut richtig, richtig weh.
Dunkelheit spielt keine Rolle
Es ist ein Abend, an dem viel zu tun ist. „Das kann man nicht erklären, warum das so ist“, sagt Stationsleitung Schwester Stephanie. Klar ist: Es gibt kein notfalltechnisches Gesetz der Dunkelheit. Soll heißen: Nur weil es draußen jetzt wieder früher dunkel wird, ist in der Ambulanz nicht automatisch mehr zu tun.
Rund 30.000 Patienten kommen jährlich in die Ambulanz des AKHs. Ein 22-köpfiges Team versorgt die Patienten in mehreren Schichten. Physisch, aber vor allem mental ein Job, der Pflegern und Ärzten alles abverlangt. Zumal die Arbeitsqualität in den vergangenen Jahren enorm gestiegen ist und Zeitfenster bei gewissen Notfällen so klein sein können, dass ein Handgriff einer zu viel sein kann. Sekunden entscheiden dann über Folgen oder Folgenlosigkeit. Über Leben oder Tod.
18.40 Uhr. Sieben Räume, sieben Patienten. Hochbetrieb. Es brummt. Ein bisschen ist es so, als wenn man sieben Kochtöpfe auf sieben Herdplatten stehen hat. Einige könnten überkochen. Man muss ein Auge haben, die Schwere der Fälle gewichten, delegieren, selber übernehmen. Und zwischendurch jede Menge dokumentieren. Viel für eine Ärztin mit zwei Armen und zwei Augen.
Bange Momente, wenn es klingelt
Das Licht taucht die Station in eine taghelle Atmosphäre. Immer wenn das Telefon klingelt, kehrt kurze Stille ein. In jeder Sekunde kann der Notfall reinkommen, der hier alles verändert. Der die ganze Mannschaft in den Schockraum saugt und den Kampf zwischen Leben und Tod beginnen lässt. „Wir schicken dann ein Codewort durchs ganze Haus“, sagt Schwester Stephanie. ,Polytrauma’ wäre so ein Schlüsselbegriff. Dann schrillen die Alarmglocken.
Schwester Stephanie hat viel erlebt in 15 Jahren in der Ambulanz. Fälle waren dabei, die sie niemals mehr vergessen wird. Wie der eines Mannes, der auf einer Baustelle regelrecht gepfählt wurde. Das Bauteil ragte aus seinem Körper, als man ihn auf die Ambulanz rollte. „Man konnte ihn nicht retten. Wir haben ihn noch am Leben gehalten, damit er sich von seiner Familie verabschieden konnte.“ Ein Moment, der selbst erfahrene Pflegekräfte aus der Bahn werfen kann.
Und genau deshalb, sagt Schwester Stephanie, sei es so wichtig, dass ein ganz besonderer Typ Mensch hier arbeite. „Deine Familie muss intakt sein, dein Umfeld, deine Freundeskreise. Und du selbst musst ein ehrlicher und offener Mensch sein. Denn jede Macke, die du an dir hast, kommt hier raus.“
Das Telefon klingelt wieder. Wenige Augenblicke später ist der Rettungswagen im Dunkel der Nacht durch die große Glasscheibe zu sehen. Das Herz eines älteren Mannes schlägt völlig taktlos und rasend schnell. Der Mann ringt um Luft. Keiner seiner Versuche endet in einem tiefen Atemzug. Er jappst. Er kämpft. Seine Frau wirft bange Blicke auf die beiden Monitore neben ihm, die für den Laien unentschlüsselbare Codes und Zahlen ausspucken.
Unzählige rettende Handgriffe
Rund um eine Internistin macht das Pfleger-Team unzählige Handgriffe. Sätze fallen hier nicht. Nur einzelne Worte. Jeder funktioniert. Volle Fokussierung. Nach einigen Minuten ist klar: Der Mann mit dem flimmernden Herzen wird die Nacht auf der Intensivstation verbringen. Sein Schicksal: für mich ungeklärt.
Kurz durchatmen. Ein Gespräch kommt auf. Dr. Susanne Schwarze erklärt. „Ich arbeite sozusagen vom Komplexen zum Einfachen.“ Und zwar nach dem Ausschlussverfahren. Je höher der Informationsgrad über einen Unfall und je mehr Diagnosen ausgeschlossen werden können, desto schneller gelangt man zum Ergebnis.
Wenn eine Ärztin das erklärt, klingt es so einfach wie ein Kuchenrezept. In der Praxis wirkt das für den Laien so schwierig, wie die sechs richtigen Ziffern auf einem Lottoschein einzutragen.
Anerkennung für die, die hier arbeiten
Wir können diese Geschichte nicht zu Ende bringen, ohne über die Sache mit dem Handbruch zu sprechen. Die Sache, die mich hergeführt hat. Die klassische Verletzung des temperamentvollen Mannes, so sagen sie hier, der in seiner Rage mal eben vor die nächste Wand gehauen hat. Nur dass in meiner Geschichte keine Wand, sondern ein Sturz beim Sport den Knochen brechen ließ.
Was hat mein kleines Praktikum mit meiner Meinung über jenen Abend in der Ambulanz gemacht? Er hat ihn in ein anderes Licht gerückt. Und noch mal: Ich möchte nicht tauschen. Weder mit den Pflegern noch mit den Ärzten. Anerkennung für die, die hier arbeiten.
Und vor allem: einen ruhigen Heiligen Abend.