Hagen. . Reihe eins, Platz zwölf, das ist der Platz von Sophia Marl. Die 104-Jährige hat seit 1938 ein Theater-Abo. Zu fast jeder Vorstellung fährt sie noch mit dem Bus. Nun bekam sie ihr Abonnement auf Lebenszeit geschenkt. Ihr Ziel: „Die kommende Spielzeit will ich gut überstehen.“

Noch mal, wie bitte? „Ja, sag’ ich doch. Ich bin mit dem Bus gefahren.“

Ungläubige Blicke hinüber zum Schwiegersohn. „Gucken Sie mich nicht so an, meine Schwiegermutter macht alles mit dem Bus“, sagt der. Sophia Marl war gestern Morgen in der Stadt beim Frisör. Alleine. Weil der gestrige Abend ein besonderer war. Es war der Abend, an dem die 104-Jährige ihr Theater-Abo endlich geschenkt bekam. Reihe eins, Platz Nummer zwölf. Da sitzt Sophia Marl. Abonnentin seit 1938.

Orchestersessel war ihr erster Platz

Ihre beiden Theaterfreundinnen sind verstorben. Die eine vor zehn, die andere vor 15 Jahren. Wenn der liebe Gott einen 104 Jahre alt werden lässt, dann fühlen sich zehn Jahre so an, als wäre es gerade eben erst gewesen. „Seitdem gehe ich allein.“ Das heißt: Sie fährt. Mit dem Bus.

Der Orchestersessel war ihr Platz, als die gebürtige Bayerin 1938 ihr erstes Abo für das Stadttheater kaufte. Damals mit ihrem Mann Wilhelm , der 1945 Opfer eines Bombenangriffs in Meschede wurde. Später zog sie um in die zweite Etage. Ja, sie spricht von diesem Platzwechsel wie von einem Wohnungsumzug. Das Große Haus des Hagener Theaters, es ist das Wohnzimmer von Sophia Marl.

Ihre Forderung: mehr Wagner

Sie sieht mondän aus an diesem Abend. So schick wie man sich eben macht, wenn man ins Theater geht. Blumen sind in ihren weißen Schal eingearbeitet, Blumen sind auf ihrer Bluse. Ihre Ohren und Augen sind müder geworden im Laufe des langen Lebens. Deshalb sitzt sie auch in Reihe eins. Zwei Hörgeräte verstärken den dort ohnehin satten Klang aus dem Orchestergraben. „Nur das Sehen fällt mir seit etwa einem Jahr immer schwerer.“

Immerhin: Die neuerliche Ballett-Aufführung des Nussknackers beschreibt sie so präzise, dass man nicht annehmen würde, dass die Sehkraft kaum noch zur Kulisse reicht. In ihrem Kopf formen sich Bilder aus Erfahrungen. Viele Inszenierungen hat sie schon mal gesehen. Zusammen mit dem Klang entsteht daraus eine Vorstellung, die so nur die Dame auf Platz zwölf in Reihe eins sehen kann. Und niemand anders.

Noch nie in der Zeitung erschienen

Sie fordert mehr Wagner. „Können Sie da nicht mal wieder was spielen?“, fragt Marl den Intendanten Norbert Hilchenbach. Der schüttelt mit dem Kopf. „Und was ist mit Carmen?“ Sei abgespielt, sagt Hilchenbach. Sophia Marl wird sich gedulden müssen, bis Wagner oder Bizet ihren Zauber wieder von den Brettern sprühen, die in Hagen für manche die Welt bedeuten.

„Übrigens“, nutzt Sophia Marl den Termin gleich für eine weitere Anregung – und zwar Richtung Presse – „ihr habt da jemanden, der immer so alte Leute wie mich anruft und fragt, ob man da mal eine Geschichte machen könnte.“ Stimmt, und? „Na, jetzt habt ihr mich. Ich habe nämlich bislang immer Nein gesagt.“

Sie hat Arthrose und in den Kellerräumen ihrer Schule in Dortmund, wo sie viele Jahre als Lehrerin arbeitete, hat sie Rheuma bekommen. Und sie hat zwei künstliche Hüften. „Sonst nichts. Ich kann ja auch nichts dafür, dass ich so alt geworden bin.“

Neues Abo auf Lebenszeit

Die Freunde im Kneipp-Verein haben gesagt, wer über 100 sei, der könne auch mal Geschenke entgegennehmen. Sophia Marl hat das gestern getan. Aber warum hat das Theater nicht schon viel früher mal ein Abonnement für die treue Besucherin springen lassen? „Weil unser System erst seit einiger Zeit die langen Zeiträume solcher Abos erfassen kann“, sagt Norbert Hilchenbach.

„Und wissen Sie was? Dieses Abo will ich auch noch überstehen“, sagt Marl. Es läuft bis zum Ende dieser Spielzeit und würde selbstverständlich weiter verlängert. Es gilt auf Lebenszeit. „Und wie sieht es mit Sondervorstellungen aus?“, will Sophia Marl wissen. Nein, die müsste sie bezahlen. Ein kleines Übel.