Hagen/Schwerte. Noch immer ist unklar, wer im August 2008 eine 20-Jährige auf einem Rastplatz an der A45 erschossen hat. Sie wurde ermordet, um die Familienehre wiederherzustellen. Doch im „Ehrenmord“-Prozess bröckelt die Einheit der Familie zusehends. Im Juli könnte ein Urteil fallen.
Die junge Frau musste sterben, weil sie figurbetonte Kleidung trug, rauchte, feierte und Affären mit Männern hatte. Und weil sie damit angeblich die Familienehre beschmutzt hatte. Vor fast fünf Jahren wurde eine damals 20-Jährige aus Schwerte auf einem Rastplatz an der A45 mit einem Kopfschuss aus nächster Nähe regelrecht hingerichtet.
Doch noch immer ist nicht klar, wer die Kugel abgefeuert hat. Im mittlerweile zweiten Prozess um den sogenannten „Ehrenmord“ beschuldigen sich die Angeklagten gegenseitig, um ihre eigene Haut zu retten. Von Ehre und Zusammenhalt ist nicht mehr viel zu spüren, die Einheit der Großfamilie bröckelt zusehends.
Im Januar 2010 wurde bereits ein 21-jähriger Cousin vom Hagener Landgericht als Mittäter zu 14 Jahren Haft verurteilt. Er soll seine Cousine auf dem Boden festgehalten haben, als der tödliche Schuss fiel. Der mutmaßliche Haupttäter, ein Onkel, war nach dem Mord ins Ausland geflohen und zunächst nicht auffindbar.
Im September 2012 wurde er in Finnland festgenommen. Seit dem 15. März dieses Jahres sitzt er neben einem Bruder des Opfers auf der Anklagebank, zusammen mit der Mutter und einem weiteren Onkel der jungen Frau. Sie sollen auf einem „Familientribunal“ im Sommer 2008 ihr Todesurteil gefällt haben.
Glaubwürdigkeit angezweifelt
Lange hatten sie geschwiegen, doch zuletzt belastete der Bruder, der zur Tatzeit 16 war und in einer früheren Vernehmung die Schuld auf sich genommen hatte, seinen Onkel schwer. In einer schriftlichen Einlassung schilderte er, dass der 51-Jährige, ein gebürtiger Syrer, der mit seiner Familie lange in Finnland gelebt hatte, nach Deutschland gekommen sei, um die junge Frau zu bestrafen.
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Ihre Männerbekanntschaften hätten sich in Schwerte, wo der andere Teil der Großfamilie lebt, herumgesprochen; ihre moderne, figurbetonte Kleidung und ihr westlicher Lebensstil waren der Familie schon lange ein Dorn im Auge. Der Onkel habe eine Pistole besorgt, die 20-Jährige zusammen mit dem bereits verurteilten Cousin abgeholt und sei zum Rastplatz „Sterbecker Siepen“ gefahren. Dort soll er die Frau in eine Gebüsch gezerrt und kaltblütig erschossen haben.
Die Verteidigung des Onkels wies jedoch alle Vorwürfe zurück und ließ die Glaubwürdigkeit des Bruders von einem Gutachter prüfen. Zudem forderte sie, dass seine Aussagen nicht länger verwertet werden dürfen.
Diesen Antrag wies das Gericht am Dienstag jedoch ab. Der Gutachter kam zu dem Schluss, dass der Bruder des Opfers wegen einer Persönlichkeitsstörung zur Tatzeit sehr leicht von anderen steuerbar war. Bei einer Verurteilung könnte er also auf ein milderes Urteil wegen verminderter Schuldfähigkeit hoffen. Die Störung habe aber keine Auswirkung auf die Glaubwürdigkeit seiner Aussagen.
Kinder sprechen von Intrige der Familie zum Schutz des Getöten
Um den mutmaßlichen Haupttäter zu entlasten, reisten am Dienstag sogar zwei erwachsene Kinder aus Finnland an. Die Schuldzuweisung sei eine Intrige der Familie, um den Bruder der Getöteten zu schützen, sagten sie. Ihr Vater sei warmherzig und tolerant, sie hätten zum Beispiel heiraten dürfen, wen sie wollen – allerdings nur Muslime und am liebsten aus der Glaubensrichtung der Sunniten, stellte sich später auf Nachfragen heraus.
Die mitangeklagte Mutter und ein weiterer Onkel sind mittlerweile wieder auf freiem Fuß. Der 50-Jährige soll mögliche Tatorte ausgekundschaftet haben. Der 49-jährigen Mutter wird vorgeworfen, ihre Tochter einen Tag vor der grausamen Tat aus einem Frauenhaus gelockt zu haben, in das sie zuvor geflohen war. Offenbar hatte sie wegen ihres Lebensstils, der nicht zu den Normen und Werten ihrer aus dem Nahen Osten stammenden Familie passte, schon lange Angst: „Ich weiß, dass sie einem Mädchen, das so einen Fehler macht, das rechte Auge ausschießen“, habe sie einmal einer Zeugin gesagt, schilderte diese im Prozess. Trotzdem habe sie sich nach ihrer Familie gesehnt. Warum? „Es ist halt Familie.“
Der Prozess wird am Donnerstag fortgesetzt. In Kürze sollen die Plädoyers verlesen werden. Ein Urteil könnte noch im Juli fallen.