Hagen/Arcoverde.

Johanna Fischotter war zwar noch nie die Allerpünktlichste, aber doch zumindest zu Silvester starten auch bei ihr um Punkt 0 Uhr die Neujahrsraketen. Vorher kommt der 10-Sekunden-Countdown, dann der Sektkorkenknall, Umarmungen und ein pünktlicher, gelungener Start ins neue Jahr. „Nicht so beim letzten Jahreswechsel. Gelungen und unvergesslich war er schon, aber pünktlich und typisch wohl eher nicht“, erinnert sich die junge Hagenerin.

Damals, vor fast einem Jahr, seien Zeit und Pünktlichkeit eher relativ gewesen, denn Familie und Freunde befanden sich bei Schnee und Kälte schon seit vier Stunden im neuen Jahr, während für Johanna Fischotter und ihre Freundin Lea Bönicke im von Hagen zirka 7.900 Kilometer Luftlinie entfernten brasilianischen Arcoverde die Welt bei 40°C im Schatten ganz anders aussah.

Leben mit Menschen auf der "Müllstraße"

Die beiden Hagenerinnen aus der katholischen Kirchengemeinde St. Michael in Wehringhausen brachen am 16.Juli 2010 in die 61.000 Einwohner zählende Kleinstadt Arcoverde im Bundesstaat Pernambuco im Nordosten Brasiliens auf, um dort ein Jahr mit den Menschen der „Müllstraße“ zu leben und im Projekt Fundação Terra zu arbeiten. Vor dem 1984 ins Leben gerufenen Hilfsprojekt ernährte die Müllkippe am Ende der Müllstraße im südöstlichen Teil der Stadt die Bewohner der Straße alleine, indem sie sich dort Nahrung und verwert- oder verkaufbare Gegenstände suchten.

„Der Entschluss, nach dem Abitur für ein Jahr ins Ausland zu gehen, stand für uns beide schon lange fest. Raus in die Welt und völlig neue Erfahrungen sammeln. Schon die Schüleraustauschprogramme weckten hierfür das erste Interesse an fremden Kulturen“, erklärt Johanna die Aufbruchstimmung. Und wie kann man eine fremde Kultur besser kennen und lieben lernen, als selbst, zumindest zeitweise, ein Teil dieser zu werden?

365 Geschichten

Als Wellington Santana Lima, der Leiter des Projekts Fundação Terra, im Oktober 2009 in die Kirchengemeinde St. Michael kam, um über die Arbeit mit den Menschen und die Fortschritte zu berichten, sei schnell klar gewesen, wohin die Reise gehen sollte.

So kam es also, dass Lea und ihre Freundin 365 Tage Teil einer anderen Welt wurden. 365 Geschichten, die es alle zu erzählen wert wären, denn jeder Tag barg seine eigenen neuen Erfahrungen, tolle wie schlimme, lustige wie traurige. „Die Positiven haben aber zweifelsfrei überwogen,“ erinnert sich Johanna, die jetzt in Passau studiert. Doch was es bedeutet, in der Müllstraße zu leben, das war den beiden jungen Hagenerinnen vorher nicht ganz klar.

„Ich glaube, das geht auch gar nicht. Zu hören, es gibt kein Wasser und zu erleben, dass es wirklich kein Wasser gibt, das ist ein zum Himmel riechender Unterschied. Zu hören, es gibt jeden Tag Reis und Bohnen zu essen und zu schmecken, dass es wirklich jeden Tag Reis und Bohnen in Variation mit Bohnen und Reis gibt, ist ein Unterschied.“ Aber die Christinnen merkten auch sehr schnell, dass sie sich an die Umstände gewöhnten. Und mit ein bisschen Humor, so ihre Erfahrung, sei auch alles halb so wild gewesen.

Weihnachten ohne Hunger

Zwei der einprägsamsten Erlebnisse, die sie mit zurück nach Hagen brachten, waren wohl Weihnachten und Silvester. Weihnachten – Christi Geburt, Fest der Familie, der Ruhe und des Friedens. Stille Nacht... Nun, so haben die beiden ihr Weihnachten 2010 mit Sicherheit nicht in Erinnerung. „Der 24. Dezember stand bei uns im Projekt unter dem Motto ‘Natal sem fome’, also Weihnachten ohne Hunger. Für uns Freiwillige bedeutete dies, bei der Zubereitung und Austeilung von über 2.000 Mahlzeiten mitzuhelfen. Unglaublich, wie viele Menschen dort waren. Schon vor dem Frühstück standen die Menschen vor dem Hauptgebäude Schlange. Und überall dazwischen unsere Kinder aus Schule, Kindergarten und vom Sportplatz, die einen umarmen und sagen, wie schön es ist, dass wir da sind. Abends saßen wir im Altenheim, wo wir immer gegessen haben. Auf dem Tisch sanden aber weder Fleisch noch Fisch, es gab Milchpampe mit Obst und Keksen.“

Außerdem gehören zu Weihnachten „natürlich“ auch Geschenke. Johanna hatte für ein paar Kinder, mit denen sie in den Monaten vorher oft auf dem Sportplatz gespielt hatte, je eine Weihnachtskarte gebastelt, zwei Fotos entwickeln lassen und eine kleine Packung Kekse gekauft. „So natürlich, wie ich dachte, war es dann aber wohl doch nicht. Ich habe noch nie gesehen, dass sich Kinder so über eine Kleinigkeit freuen können.

Straßenfest mit Musik am ersten Weihnachtstag

Das war für mich definitiv eine der schönsten Weihnachtserfahrungen überhaupt.“ Und noch ein Unterschied zu Deutschland, wo die Kirchen das Jahr über fast leer sind und an Weihnachten geradezu aus den Nähten platzen. In Arcoverde sind alle Gottesdienste gut besucht, nur die Messe am ersten Weihnachtsfeiertag nicht. Dafür wurde an den Feiertagen dann eine Art Straßenfest mit viel Musik und noch mehr Nationalgetränk (Cachaça, Rohrzuckerschnaps) gefeiert. „Wie gesagt, ‘Stille Nacht...’ ist nicht, dafür ist es gesellig und schön.“

Mit den Feierlichkeiten für den Jahreswechsel wurde in Arcoverde schon am 29. Dezember begonnen. Vier Tage, oder besser gesagt Nächte, lang wurde gefeiert. Ein Truck, von dem eine berühmte brasilianische Band spielte, fuhr durch die Straßen und die ganze Stadt tanzte hinterher. Bei selbst nachts 25°C eine tolle Art, das alte Jahr zu verabschieden und das neue willkommen zu heißen.

"Andere Länder, andere Sitten"

Nur am 31. Dezember selbst sollte der ganze Zauber erst um 1 Uhr anfangen, da half auch ein Sprint nichts mehr. „Um Punkt 0 Uhr rannten wir durch die Müllstraße in Richtung Altenheim, um dort mit der Nachtwächterin ins neue Jahr zu schlittern. Leider waren wir irgendwie spät dran. Da in Brasilien aber eh die Uhren anders gehen, war Neujahr einfach in dem Moment, in dem wir beim Altenheim ankamen. Andere Länder, andere Sitten,“ weiß Johanna heute nur allzu gut. Sie und ihre Freundin Lea sind froh, diese Erfahrungen gemacht zu haben und würden jederzeit wieder in dieses bunte Land mit den trotz ihrer Armut so lebensfrohen Menschen aufbrechen. „Es war ein Jahr, an das wir uns immer gerne zurückerinnern werden.“ Und das sicherlich ganz besonders heute am Heiligen Abend und natürlich an Silvester.