Hagen. Der Zustrom von Geflüchteten und Zuwanderern nach Hagen hält an - eine Entwicklung, die auch OB Schulz nicht immer als bereichernd empfindet.
Die Stimmung in Hagen drohe zu kippen, blickt Oberbürgermeister Erik O. Schulz angesichts der Zuwanderungssituation durchaus mit Sorge auf den aktuellen Gemütszustand der Bürger in seiner Stadt. Teile der Bevölkerung seien mit den Umständen inzwischen überfordert: „Das bringt eine Stadtgesellschaft in Bedrängnis“, sieht der Verwaltungschef in der Belegung von Turnhallen für Flüchtlinge durchaus einen Wendepunkt in der bislang vorzugsweise von Toleranz geprägten Debatte.
„Es ist ein schmaler Grat zwischen Willkommenskultur und der klaren Abgrenzung gegen jegliche Form von Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit. Mir fällt es im Moment auch nicht immer leicht zu sagen, dass ich jede Form von Zuwanderung als eine bereichernde und bunte Ergänzung unserer Gesellschaft empfinde – dann würde ich an vielen aktuellen Problemen vorbeireden“, spürt er, dass die Tonalität schärfer wird, wenn Bürger ihm ihre Sorgen mitteilen. Zugleich versichert er, dass die Stadt alles dafür tue, die Turnhallen wieder freizubekommen und alternative Unterbringungsmöglichkeiten zu schaffen.
Zuletzt hatte der OB gemeinsam mit seinen Amtskollegen aus Duisburg, Herne, Solingen, Leverkusen, Mönchengladbach und dem EN-Landrat in einem Interview mit überregionalen Medien deutlich gemacht, wie sehr die Städte inzwischen unter den permanenten Krisensituationen leiden würden. Längst könnten die Standards beim Erhalt der Infrastruktur vor dem Hintergrund leerer Kassen nicht mehr gehalten werden.
In Hagen, so Schulz, werde beispielsweise an den Schulen bloß noch „ausfallorientierte Instandhaltung“ betrieben, also nur das Notwendigste repariert. Ein pädagogisch zeitgemäßer Standard mit ausreichender Digitalisierung sei schwer zu realisieren. Hinzu komme, dass eine Stadt wie Hagen, wo inzwischen 70 Prozent der Unter-Zehnjährigen einen Migrationshintergrund haben, die Integrationsaufgaben kaum mehr bewältigen könne. Diese Gemengelage gefährde die Akzeptanz der Demokratie.
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Hilferufe bleiben ungehört
Die Flüchtlingsströme von Asylbewerbern aus Afrika und Vorderasien in Kombination mit den ukrainischen Kriegsflüchtlingen und der Armutszuwanderung aus den EU-Staaten Südosteuropas haben so viel Druck besonders in den notleidenden Städten entstehen lassen, dass diese schon seit Jahren sich mit Hilferufen an Land und Bund wenden. Dort finden sie, so der Eindruck der Oberbürgermeister, jedoch kaum Gehör, viele Brandbriefe verhallten in der NRW-Staatskanzlei und im Bundeskanzleramt effektfrei. Die Realitäten rund um Kitas, Schulen und OGS sowie die übrige Infrastruktur würden außerhalb der betroffenen Kommunen zunehmend ausgeblendet, so die Kritik der Verwaltungschefs.
Beispielhaft schaut Schulz auf die Hagener Sportler, die nicht bloß unter Corona arg gelitten hätten, sondern inzwischen auch miterleben müssten, dass die Stadt ihre Turnhallen für Flüchtlinge belegt und somit der Sportbetrieb erneut zurückstecken muss: „Das war noch einmal ein Wendepunkt in der Debatte rund um den Umgang mit der anhaltenden Zuwanderung. Wir arbeiten mit Hochdruck an dem Thema, weil wir es natürlich ebenfalls überhaupt nicht hinnehmbar finden, dass Menschen in diesen Hallen leben. Zumal diese Hallen gar nicht verfügbar sind. Deshalb müssen wir auch gar nicht versuchen, die Leute mit einer kritischen Haltung zu bekehren, sondern wir müssen die Hallen wieder leer kriegen.“
„Aber die Welt ist eben nicht so einfach, wie mancher Politiker sich das vorstellt“, zeigt sich Schulz durchaus genervt von immer wiederkehrenden Fragen nach verbindlichen Terminzusagen, bis die Hallen wieder für den Sportbetrieb zur Verfügung stünden: „Es geht eben nicht bloß darum, ein paar Container zu bestellen und ein Dixi-Klo davorzustellen. Zugleich stehen planungsrechtliche Fragen, Erschließungsfragen und bauordnungsrechtliche Fragen im Raum. Die mag man alle lästig finden, sie müssen aber in einem demokratischen Rechtsstaat abgearbeitet werden. Unsere Leute sind da unter Hochdruck dabei, die vielen Details abzuarbeiten.“
Überall bleibt ein Störgefühl
Das gelte für kommunale Unterkünfte ebenso wie für die geplante Landesunterkunft, die in dem ehemaligen Max-Bahr-Baumarkt entstehen soll. Wobei Schulz ankündigt, dass Hagen sich parallel noch weitere Standorte anschaue. Hier würden die Orte allerdings erst benannt, wenn das Verfahren ein wenig konkreter werde: „Dann machen wir auch Bürgerkommunikation wie jetzt am Kirchenbergstadion, denn wir wissen natürlich, dass diese Alternativen ebenfalls nicht alle großartig finden. Es gibt keine einzige Unterbringungsmöglichkeit in dieser Stadt, wo nicht irgendein Störgefühl aus der Bürgerschaft entwickelt wird.“
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Das stelle die Stadt vor enorme Herausforderungen, weiß Schulz: „Das Spektrum reicht vom Bildungssektor über den Finanzsektor bis hin zu den Themen Kita und Beschulung und eine stetig zu führende Wertedebatte – das kann man nicht durchweg als ,bereichernd‘ bezeichnen. Wir müssen uns mit diesen Fragen auseinandersetzen – sicherlich auch mal angeschärft –, aber bitte ohne Schaum vor dem Mund und ohne rosarote Brillen.“
Fakt ist: Zurzeit leben in Hagen neben den Geflüchteten im Rahmen der EU-Zuwanderung weitere 4878 Rumänen sowie 2347 Bulgaren. „Das ist eine erkleckliche Zahl, wenn man das mal auf die Größe der Stadt herunterrechnet“, ordnet Schulz diese Daten ein. „Dennoch weigere ich mich, diese 7225 Menschen per se als 7225 Probleme zu betrachten. Aber natürlich sind das auch nicht alles Familien, bei denen der Papa ein klassischer Arbeitnehmer im freizügigen Europa ist. Daher müssen wir dringend darüber sprechen, ob wir hier auf europäischer Ebene nicht Fehlanreize setzen“, wirbt der OB erneut dafür, mit der EU-Zuwanderungsthematik Gehör bei Bund und Land zu finden.
„Wir dürfen die Fragen der Armutsflüchtlinge innerhalb der Europäischen Union nicht länger tabuisieren. Und natürlich üben die Länder, in denen die Sozialsysteme am besten ausgeprägt sind, hier eine besondere Anziehungskraft aus“, möchte Schulz dies keineswegs als Vorwurf an einzelne Menschen verstanden wissen, „die sich verständlicherweise in Europa auf den Weg machen“.
„Ich kann nachvollziehen, dass eine Landesregierung zunächst einmal darauf hinweist, dass eine aus der EU-Freizügigkeit resultierende Zuwanderung nichts mit Kriegsflüchtlingen zu tun hat“, räumt der OB ein. „Ich ziele auch gar nicht darauf ab, dass man allein mit Geld unsere Probleme aus der Welt schaffen soll. Allerdings muss dort verstanden werden, dass man Zuwanderung aus Flucht durchaus zusammen mit den parallel gelagerten EU-Zuwanderungsproblemen betrachten muss. Immerhin handelt es sich dabei um ein Folgeproblem: Die Situation ist ja letztlich deshalb bei uns problematischer als beispielsweise in Düsseldorf, weil wir als Konsequenz des Strukturwandels zugleich ein Leerstands- und Wohnungsmarktproblem haben, was uns wiederum dazu zwingt, Schrottimmobilien aufzukaufen, um sie abzureißen oder zu sanieren.“
450 Wohnungen angemietet
Ausdrücklich verwahrt sich Schulz gegenüber der in Sozialen Medien immer wieder formulierten Kritik, die Stadt habe sich auf die Flüchtlingswelle nicht ausreichend vorbereitet. „450 Wohnungen haben wir mittlerweile angemietet. Hinzu kommen Einrichtungen wie Haus Busch und die Bildungseinrichtung in Berchum. Alles, was man irgendwie tun kann, haben wir getan. Aber wir können auch nicht jede frei werdende Wohnung in der Stadt prophylaktisch anmieten – wer soll das bezahlen? Unsere Mitarbeiter im Fachbereich Integration leisten da zurzeit wirklich Außergewöhnliches und müssen dennoch viel Ärger aushalten.“