Hagen. Angesichts sinkender Mitgliederzahlen und schmalerer Mittel wird die evangelische Kirche in Hagen sich 2024 neu organisieren.
Zu Weihnachten waren die Kirchen in Hagen traditionell gut gefüllt. An diesen besonderen Tagen verspüren viele Menschen weiterhin den intensiven Wunsch, der biblischen Botschaft in Form von Gottesdiensten ein Stück näherzurücken. Dennoch nimmt die Zahl der Gläubigen, die Mitglied in einer christlichen Kirche sind, weiterhin kontinuierlich ab. Eine Tatsache, der der Evangelische Kirchenkreis Hagen mit seinen 15 Kirchengemeinden mit viel Realismus ins Auge blickt und über Lösungswege diskutiert, wie auf diese Entwicklung, die auch mit sinkenden Einnahmen einhergeht, clever und vor allem zukunftsfest reagiert werden kann. Doch die Zeit der Debatten und Abwägungen ist jetzt vorbei – 2024 wird das Jahr der Richtungsentscheidungen. Wohin der Weg gehen wird, hat die Stadtredaktion im Gespräch mit Superintendent Henning Waskönig versucht aufzuarbeiten.
Wo stehen Sie inzwischen? Gibt es bereits Weichenstellungen, die sich benennen lassen?
Die Hauptaufgabe bei der Kirche ist unter anderem, möglichst viele Menschen mitzunehmen. Deshalb braucht manches eben auch eine gewisse Zeit, um zu reifen und um Entscheidungen vorzubereiten. Wir haben bereits vor zwei Jahren damit begonnen zu schauen, wo es denn perspektivisch hingehen könnte.
Diese Zeit wollten Sie sich aber auch ganz bewusst nehmen, oder?
Genau, aber diese Zeit haben wir auch gebraucht. Wir haben nämlich deutlich gemerkt, dass Ressourcensteuerung und Kirchenbild zusammenhängen. Wir müssen also wissen, was wir tun wollen, um dann zu entscheiden, wie wir die geringer werdenden Ressourcen gut einsetzen.
Also erst das Bild und dann die Ressourcen verteilen?
Ja, das war jetzt der letzte Schritt mit Blick auf die bevorstehende Frühjahrssynode Ende April. Dann werden wir ganz konkret in die Aufgabenkritik gehen, weil wir dann auf den verschiedenen Ebenen – also Kirchenkreis und Kirchengemeinden – klar wissen, wo unsere künftigen Aufgaben und Schwerpunkte liegen. Und dann geht es eben um die Frage, wie wir die Mittel verteilen, die wir noch haben, sodass wir das, was wir tun wollen, auch tun können. Aber das bedeutet ebenfalls, dass man sich in dem Moment, wo man sich für den Einsatz von Mitteln entscheidet, sich an anderer Stelle von Dingen verabschieden muss. Oder wir müssen zumindest kompakter werden.
Was könnte das konkret bedeuten?
Wir denken sicherlich jetzt in größeren Räumen. Die vier Kooperationsräume im Kirchenkreis sind wirklich dazu aufgefordert, enger zusammen zu planen und zu arbeiten. Das wird landeskirchlich auch genau so gefordert und gefördert. Westfalen hält sich mit Steuerungseingriffen schon sehr zurück, aber es gibt durchaus ein paar Rahmenbedingungen, die sie setzen. Dabei stehen vor allem das pastorale Personal und die Gebäude im Fokus. Hier wird nur noch in Planungs- beziehungsweise Kooperationsräumen gedacht. Das bedeutet, dass eine Pfarrstelle, die in einer Kirchengemeinde frei wird, nicht automatisch dort nachbesetzt wird, sondern der gesamte Raum muss betrachtet und auch intern verschoben werden. Das führt wiederum dazu, dass in diesen Räumen eine ganz neue Identität aufgebaut werden muss, damit das pastorale Personal eben gemeinsam eingesetzt wird.
Da steckt bei 15 Kirchengemeinden, die häufig Ein-Pfarrstellen-Kirchengemeinden sind, ja noch reichlich Reibungspotenzial drin. Zumal heute der Pfarrschlüssel der Landeskirche noch 3000 Kirchenmitglieder pro Kopf vorsieht, aber ab dem Jahr 2030 bereits von 5000 Gläubigen die Rede ist. Das bedeutet doch konkret, dass es in den nächsten Jahren weniger um Nachbesetzungen, sondern lediglich noch um Neuzuschnitte gehen wird?
Das kommt sicherlich auf den jeweiligen Raum an, aber die Gemeinden blicken auf dieses Thema schon heute mit einem gesunden Realismus. Das führt bei manchen Pfarrkollegen auch zu der Frage, wie frei sie eigentlich noch sind bei der Entscheidung, wann sie in den Ruhestand gehen. Denn sie wissen, dass mit ihrem Abgang womöglich auch die Pfarrstelle verschwindet. Das macht schon was mit den Menschen – und der Gemeinde. Denn wir sehen ja auch, dass die Arbeit weiterhin da ist. Aber was macht das mit den Finanzen? Natürlich könnten wir entscheiden, mehr Pfarrpersonal zu bewahren, aber dann können wir beispielsweise keine Jugendarbeit mehr machen. Und vor dem Problem stehen wir gerade: Wir müssen gucken, welche Professionen wir brauchen, welches Personal, welche Prioritäten setzen wir? Was können Diakone, Jugendreferenten oder auch Kirchenmusiker abdecken? Hier besteht die Chance, die Aufgaben in Teams zu verteilen.
Jetzt mal konkret zum Thema Geld: Wo wird sich ihr Kassenstand in den nächsten Jahren hinentwickeln?
Für 2024 lässt sich sagen, dass wir im Kirchenkreis Hagen bei 9,3 Millionen Euro an Kirchensteuerzuweisungen liegen. Wir wissen aber mit dem prognostizierten Kirchenmitgliederrückgang, dass wir in fünf Jahren bei knapp 7,5 Millionen Euro liegen. Das ist in so kurzer Zeit wirklich heftig. Zumal auch wir die jüngsten Tarifsteigerungen erheblich zu spüren bekommen.
Wie sieht denn vor diesem Hintergrund die Mitgliederprognose aus, aus der sich ja die Finanzmittel ableiten?
Wir liegen mit den Kirchenkreisen im Ruhrgebiet immer ein wenig über dem Durchschnitt der Evangelischen Kirche von Westfalen. Im Kirchenkreis Hagen hat sich der jährliche Rückgang bei knapp drei Prozent eingependelt. Das ist nicht mit den Austrittszahlen gleichzusetzen, sondern dort spiegeln sich auch Verstorbene und weniger Täuflinge wider. Das bedeutet, dass unter dem Dach des Kirchenkreises Hagen zurzeit noch knapp 60.000 Christen versammelt sind. Mitte der 70er-Jahre waren wir noch doppelt so groß.
Wie sieht denn nun das Kirchenbild aus, das sie bei der Synode im April mit Inhalten hinterlegen müssen?
Natürlich haben wir inzwischen unsere eigenen Vorstellungen. Aber alle zehn Jahre gibt es auch eine Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, die deutschlandweit stattfindet. Die Ergebnisse aus November – die Analyse wurde übrigens bei evangelischen und katholischen Christen gemacht – liegen in Form eines Vorberichts jetzt vor. Dabei werden wissenschaftlich begleitet etwa 6000 Interviews geführt und daraus deren Nutzungsverhalten und Bindung zum Thema Kirche abgeleitet. Man könnte also von einer Kundenanalyse sprechen, aus der hervorgeht, was die Menschen eigentlich von der Kirche erwarten. Da stecken für uns zwei ganz wichtige Marker drin: Zum einen die Aussage „Die Nachfrage nach Religion ist gering“. Das muss man erst einmal sacken lassen. Zum anderen die Feststellung, dass wir dort wirklich punkten, wo wir diakonisch handeln. Das kirchliche Kerngeschäft des Sonntags ist also gar nicht mehr so relevant.
Also bloß noch Taufe, Beisetzung und Weihnachten?
Nein. Die Sonntagsgottesdienste werden bleiben. Aber wir müssen ernsthaft über Reduzierungen an dieser Stelle nachdenken. Denn wir werden besonders in der Begleitung an den Eckpunkten des Lebens gebraucht. Die Konfirmation ist dabei auch durchaus hoch im Kurs. Wir stellen entsprechend fest, dass diejenigen, die konfirmiert worden sind, wenn überhaupt, dann deutlich später aus der Kirche austreten. Das ist also eine gute Bindungsgelegenheit für uns – es lohnt sich also, die Konfirmandenarbeit zu stärken. Hier nah dran an den jungen Menschen zu sein, schafft eine inhaltliche Bindung.
Heißt das am Ende denn vielleicht sogar, die Gottesdienstkultur infrage zu stellen?
Natürlich müssen wir auch darüber reden. Beispielsweise Weihnachten im vergangenen Jahr auf dem Tücking im Stall: Super, 600 Leute sind dort in Zusammenarbeit mit der Hildegardisschule zusammengekommen. Und Hasper Kirche, 17 Uhr: eher übersichtliche Resonanz. Daraus müssen wir schon die Frage ableiten, wie wir uns in Zukunft verhalten und wie wir Schwerpunkte setzen. Wie mutig sind wir künftig, auf das zuzugehen, wo wir den Eindruck haben, dass es gerade gewünscht und gefordert wird? Wir müssen auch das machen, wovon wir überzeugt sind. Es geht also um die Frage, wie wir beides zueinander bringen. Das Evangelium, die gute Nachricht von der Liebe Gottes, muss in Bewegung bleiben.
Aber sie möchten sicherlich nicht jedem Zeitgeistphänomen hinterherhecheln, oder?
Das sicherlich nicht. Aber wir müssen uns öffnen und immer wieder abwägen. Sonst hätten wir uns an dem Gottesdienst auf dem Tücking gar nicht erst beteiligt. Aber wir haben es einfach mal ausprobiert.
Können Sie denn die diakonische Erwartung der Christen, beispielsweise die Kita-Arbeit, langfristig überhaupt anbieten, weil diese Aufgaben ja häufig auch besonders kostenintensiv sind?
Schwieriges Thema. Natürlich müssen wir auch die Frage beantworten, wo wir uns für die Schwächeren einsetzen. Ist beispielsweise Kita tatsächlich der Bereich, über den wir uns profilieren sollten? Ich möchte auf jeden Fall, dass wir weiterhin evangelische Kindertageseinrichtungen im Kirchenkreis Hagen haben. Ich habe aber nicht die Fantasie, dass wir alle, die wir jetzt haben, auch in Zukunft halten werden. Haspe hat ja zuletzt deutlich gemacht, dass Kirchengemeinden den Eigenbeitrag als Trägeranteil sich einfach nicht mehr leisten können. Diese Abwägungen müssen getroffen werden.
Kitas sind ja häufig auch Familienzentren und bündeln damit genau die Gruppe, die Sie ja langfristig als Zielgruppe an Kirchen binden möchten. Gleichzeitig muss man feststellen, dass das Gros der Kinder dort nicht mehr eines christlichen Glaubens ist. Fischen Sie dort letztlich nicht im falschen Teich?
Das ist genau die Balance, die wir finden müssen: Wir möchten ja tatsächlich für die Schwächeren, die uns brauchen, da sein, fernab der Glaubenszugehörigkeit.
Das muss man sich natürlich auch leisten können…
Das ist genau der Punkt. Mit unserer Arbeit sind wir in Stadtteilen wie Wehringhausen, Haspe oder Altenhagen gefordert und werden dort auch gebraucht. Aber für unsere Kirchenmitgliedschaft bringt uns das wenig.
Da wird das diakonische Wirken plötzlich zum knallharten Business…
Was ja ein Widerspruch in sich ist. Wenn die Player, mit denen wir da zusammenarbeiten, uns stärker unterstützen würden, wäre es leichter. Wir bringen unsere Fähigkeiten, unser Knowhow und unsere Mitarbeiter gerne mit ein. Aber wir haben tatsächlich nicht mehr die finanziellen Mittel, das zu tragen.
Werden Sie auch dies im April diskutieren?
Unsere finanzielle Not ist so, dass wir es diskutieren müssen. Ich hoffe, dass es uns gelingt, dass wir den Fragen und Entscheidungen, die dahinter stehen, nicht allen komplett ausweichen. Wir müssen zu Entscheidungen kommen. Über den Punkt zu sagen, es sei doch immer irgendwie gut gegangen, sind wir drüber hinweg. Leider. Man merkt an der Stimmung im Kirchenkreis, dass dies inzwischen auch immer weiter in die Köpfe einsickert. Da sollten wir die neuen Leute gerade nach den Presbyteriumswahlen im Februar und März kommunikatorisch gut mitnehmen. Denn wir müssen, um den Haushalt 2024 ausgeglichen gestalten zu können, bereits Mittel aus den Rücklagen nehmen. Das geht über eine gewisse Zeit, ist aber endlich.
Schon bald wird man auch über Gottes- und Gemeindehäuser reden müssen. Gibt es schon diese schwarze Liste in Ihrem Schreibtisch, von welchen Immobilien man sich wird trennen müssen?
Nein, aber wir werden und von Gebäuden trennen müssen. Es gibt einen Plan gemeinsam mit dem Kirchenkreis Schwelm mit Blick auf das Thema Klimaneutralität 2035. Wir brauchen, um zu wissen, was wir tun, einen Projektplan, wie wir das angehen wollen. Den haben wir jetzt verabschiedet. In einem ersten Schritt wird jetzt in jedem Kooperationsraum eine Bestandsanalyse zum Zustand der Gebäude gemacht. Da werden uns externe Fachleute begleiten. Hier wird es in jedem Kooperationsraum zum Schwur kommen müssen. In der Lukas-Kirche in Eckesey und in der Petrus-Kirche in Kabel findet beispielsweise schon heute kein kirchliches Leben mehr statt, sodass bei der Landeskirche bereits der Antrag gestellt wurde, beide Gebäude zu entwidmen. Das betrifft unsere Sichtbarkeit und unsere Erkennbarkeit ganz erheblich, ist aber auch eine Belastung für die Pfarrkollegen vor Ort.
Aber das entspricht offenkundig eher der Erwartungshaltung Ihrer „Kunden“ als ein Rückzug aus dem diakonischen Wirken. Wo sehen Sie denn dort die Schwerpunkte?
Das ist ein großes Spannungsfeld im Kirchenkreis und sorgt für reichlich Debatten in den Gemeinden aber auch zwischen dem Kirchenkreis und den Gemeinden. Auf dem Papier haben wir das hinbekommen, aber in den Köpfen und im Denken ist das noch ein weiter Weg. Wenn wir die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung ernst nehmen, werden wir in der Beratungsarbeit, bei der Telefonseelsorge, OGS- und Kita-Arbeit, die vernetzt über das gesamte Stadtgebiet angeboten werden, gebraucht und wertgeschätzt. Das sind jedoch vorzugsweise Gelder, die auf der Kirchenkreisebene bewegt werden. Natürlich gibt es an dieser Stelle Diskussionen zwischen den Kirchengemeinden bzw. den Kooperationsräumen und den kreiskirchlichen Arbeitsfeldern. Hier müssen wir genau hinschauen, was an welchen Stellen passiert. Wir können nicht mehr wie in einem Gemischtwarenladen an jeder Stelle alles anbieten. Wir werden aber dahinkommen müssen, das konzentrierter und kompakter zu denken: Beispielsweise gute Kirchenmusik wird nicht mehr an jeder Stelle möglich sein. Da müssen wir uns auch ehrlicher machen.
Aber müssen Sie bei ihrem verbleibenden Wirken dann nicht auch viel sichtbarer werden?
Wir müssen unsere Marke und unsere Identität stärken! Dass Mittel des Kirchenkreises beispielsweise in erheblichem Umfang auch an die Diakonie gehen und dort genau in die Arbeit fließen, die von unseren Mitgliedern offenkundig so geschätzt wird, muss deutlicher und erkennbarer werden. Natürlich nehmen wir es ernst, dass wir gebraucht werden und die Menschen von uns auch tatkräftigen Einsatz erwarten. Aber es wird tatsächlich nicht funktionieren, ohne dass wir anderes lassen. Genau das ist die Herausforderung.