Hagen. Abends im Bahnhofsquartier? Für viele Hagener eine Vorstellung der unangenehmen Art. Ein Besuch bei den Menschen in einem Angstraum.

Nein, ich bin kein regelmäßiger Gast in dieser Straße, die sich betont schlicht, aber lokal trefflich „Am Hauptbahnhof“ nennt. Obwohl die modernen Laternen die ganze Nacht hindurch jeden Winkel der Sackgasse verlässlich ausleuchten, kommen durchaus Beklemmungsgefühle auf. Denn diesen etwa 200 Metern Hagen eilt ein wenig schmeichelhafter Ruf voraus: Üble Gestalten sollen sich hier rumdrücken, es werde gedealt und aus Kofferräumen heraus Hehlerware vertickt, heißt es. In vielen Privatwohnungen der Mehrfamilien-Häuserfront würden Illegale abtauchen und Prostituierte Dienstleistungen der käuflichen Liebe anbieten. Alles bloß Gerüchte und stigmatisierende Legenden, die einem gesamten Quartier den wenig schmeichelhaften Stempel des Angstraums aufdrücken?

Respekt vor dem Fremden

Der Blick ist subjektiv. Geprägt von Vorurteilen, die haltlos sind. Von Vorurteilen, die mich aufzufressen drohen. Viele fremdländische Gesichter prägen das Bild. Gesichter, die mich ähnlich skeptisch abzuscannen scheinen, wie ich das tue. Ich sehe Migranten mit dunklen Bärten, die sofort Assoziationen zu jenen Taliban-, IS- und Hamas-Kämpfern hervorrufen, die uns allabendlich in den TV-Nachrichtensendungen in den heimischen Wohnstuben heimsuchen. Ich kämpfe an gegen diese schubladenartige Einordnung.

Aus der Unterwelt des Bahnhofsvorplatzes ging es einst per Rolltreppe und Stufen ans Tageslicht in der Bahnhofstraße. Zuletzt empfanden die Menschen den Weg durch die Tunnel meist als bedrohlich. 
Aus der Unterwelt des Bahnhofsvorplatzes ging es einst per Rolltreppe und Stufen ans Tageslicht in der Bahnhofstraße. Zuletzt empfanden die Menschen den Weg durch die Tunnel meist als bedrohlich.  © Unbekannt | Stadtarchiv Hagen

Kioske, Lebensmittelläden, Spielhallen, Reiseanbieter und Wettbüros sowie Cafés und Restaurants, in denen es alles andere als Jägerschnitzel, Kohlrouladen und Pfefferpotthast gibt, reihen sich aneinander. Vor den meisten Türen tummeln sich Gruppen von Männern, deren angeregte Gespräche ich nicht verstehe. Mit aufheulendem Motor bewegt sich eine vielzylindrige Karosse mit abgedunkelten Scheiben über die Straße. Die Poser-Autoszene zeigt hier gerne, was sie getunt und unter der Haube versteckt hat. Zwei Frauen hetzen vom Taxistand aus durch die gern gemiedene Straße in Richtung Altenhagener Brücke – sie werden von ungezählten Augenpaaren auf Schritt und Tritt verfolgt.

„Willkommen in Hagen“ prangt in roten Lettern in der schmucken Bahnhofshalle unter dem künstlerisch gestalteten Thorn-Prikker-Fenster, wo noch immer die längst verschwundene und vergessene Textilmoden-Interessengemeinschaft Fischer/Hettlage/Lampe mit historischen Schriftzügen um Kunden wirbt. Ob diese Willkommensgefühle bei den Reisenden beim Blick auf den weitgehend schmucklosen Bahnhofsvorplatz und den ersten Metern der sich direkt anschließenden Seitenstraße tatsächlich aufkommen, darf bezweifelt werden.

Der Blick eines Anwohners

Auch Hans-Joachim Geisler fremdelt durchaus mit der Straße „Am Hauptbahnhof“: „Ich würde hier abends nicht hergehen. Aber wenn meine Frau aus Richtung Innenstadt kommt, mache ich mir keine Sorgen“, erzählt der frühere Elektroinstallateur. Seit den späten 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts wohnt der heute 75-Jährige am Graf-von-Galen-Ring. Aus dem Obergeschoss seines Mehrfamilienhauses direkt gegenüber dem stählernen Busbahnhof genießt er aus einem stattlichen Panoramafenster einen fantastischen Blick über den gesamten Platz hinweg auf das historische Bahnhofsgebäude und weiter zum Kuhlerkamp und zur Philippshöhe. „Für mich war das hier nie ein Angstraum“, ärgert ihn der schlechte Ruf sowie die Stigmatisierung des gesamten Quartiers.

Als der Handwerker und engagierte Liberale als Kind mit seiner Familie zum Bahnhof zog, prägte hier zwischen den letzten Ruinen des Krieges neben reichlich Gastronomie bereits ein funktionierender Einzelhandel die Szenerie. „Als Kinder haben wir gerne den Küster geärgert und konnten uns austoben“, erinnert sich Geisler an seine Jugendjahre, „Zuwanderung war damals noch kein Thema“. Die neue Hauptpost entstand, in der Martin-Luther- und Stresemannstraße wurde neuer Wohnraum geschaffen. „Der Wandel war eher ein schleichender Prozess und entstand erst später mit der Gastarbeiterwelle. Diese Gruppe wurde immer dominanter, teilweise auch besitzergreifend-frech“, nennt der FDP-Politiker, der seit fast einem Vierteljahrhundert in der Bezirksvertretung Mitte die Entwicklung rund um den Hagener Hauptbahnhof mitgestaltet hat, die Dinge beim Namen.

Der Bahnhof sei nun einmal in jeder Großstadt Europas ein Treffpunkt für Zugewanderte, konstatiert er durchaus den typischen Vielvölkermix. Doch die letzten Angsträume seien für ihn mit dem Ende der einst den gesamten Platz untertunnelnden Unterführungen verschwunden: „Hier war immer die Drogen- und Säuferszene unterwegs“, erinnert er sich an Begegnungen der unangenehmsten Art. „Aber heute müssen die Leute sich doch eigentlich keine Sorgen mehr machen“, ist es in den Augen von Geisler allein die Andersartigkeit der hier lebenden Mitbürger, die bei vielen Ängsten auslöse. Und das auch nur, weil sie in ihrem sonstigen Alltag eher selten mit Ausländern zu tun hätten. „Aber diese Leute tun nichts, das Gros ist vernünftig, die ausländischen Hausbesitzer kümmern sich um ihre Immobilien“, lobt er seine Nachbarn, „das sind Top-Leute“.

Rührige Geschäftsleute

Ähnlich wohlwollend blickt der 75-Jährige auf die Restaurant- und Café-Betreiber im Bahnhofsumfeld: „Es sind vor allem diese Geschäftsleute, die darauf achten, dass niemand herumlungert oder gar vor ihren Türen gepöbelt oder gedealt wird. Zudem gibt es hier, seit viele Gastronomen die kleinen, eingehausten Terrassen und Biergärten vor ihren Lokalen aufgebaut haben, eine ganz neue Aufmerksamkeit“, lobt Geisler zugleich, dass hier regelmäßig mal ein Besen in die Hand genommen werde. „In meinen Augen ist es allein das Unbekannte, was bei vielen Hagenern die Ängste auslöst“, wirbt der leidenschaftliche Bahnhofsquartier-Anwohner für sein Viertel, in dem vor allem die Trinkerszene den schlechten Ruf präge.

Dennoch war es natürlich kein Zufall, sondern vor allem eine strategische Entscheidung, dass die Polizei zuletzt ihre Innenstadtwache gezielt an die Bahnhofstraße verlegte und – als ein Ergebnis einer Sicherheitskonferenz mit den städtischen Ordnungsbehörden und der Politik – sich mit Schwerpunkteinsätzen auf das Quartier fokussierte. Zudem hat eine Forschungsgruppe der Bergischen Universität Wuppertal zuletzt drei wesentliche Defizite für das Bahnhofsumfeld herausgearbeitet: Seit Jahrzehnten fehle dort ein ganzheitlicher städtebaulicher Ansatz, eine „geteilte Sicherheitsverantwortung“ spiele in Hagen fast gar keine Rolle, und der Berliner Platz sei eine Bausünde, die dringend belebt werden müsse.

Reichlich Hausaufgaben also für die kommunale Planungsverwaltung: Bis diese erledigt sind, wird die Angstraum-Thematik beim Gedanken an den Hauptbahnhof bei vielen Hagenern sowie den Gästen der Stadt sicherlich in den Köpfen verhaftet bleiben.