Hagen. Joris Gehör war beeinträchtig. Dem Neunjährigen werden am Hörzentrum Südwestfalen in Hagen Implantate eingesetzt. Jetzt lernt er, zu hören.
Dose vom Tisch nehmen, vors Ohr halten, rappeln, hören, überlegen. Nächste Dose, dasselbe Geräusch. Treffer. Joris, neun Jahre alt, lacht. Wer schon einmal versucht hat, gegen ein Kind im Memory zu gewinnen, weiß um die Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens. Joris aber ist ein besonderes Kind. Und dieses Memory, bei dem die Ohren statt der Augen im Mittelpunkt stehen, ist sein Spezialgebiet.
Joris kann hören. Sehr gut hören. Zweier Implantate sei Dank so gut, dass er den Unterschied zwischen Reiskörnern und kleinen Nudeln, zwischen Sand und Steinchen, zwischen Luft und Watte, die sich in den Dosen befindet, sofort erkennt. Und weil er im Gegensatz zu jedem Erwachsenen mit voller Aufmerksamkeit bei der Sache ist und obendrein ein ziemlich gutes Gedächtnis hat, steht der Sieger dieses Spiels eigentlich schon fest, bevor es richtig begonnen hat: Joris.
Beim Hör-Memory nicht zu schlagen
Dass Joris hört, dass er so gut hört, dass er durch sein Hören das Memory gewinnen kann – das ist ein kleines medizinisches Wunder. Denn Joris, dieses fröhliche Kind, dieser kleine Sonnenschein, ist von Geburt an hochgradig schwerhörig. „Er war als Kleinkind klassischer Latetalker“, wie seine Mutter Inga Neutzner sagt. Einer, der schon als Kind sich die Spielsachen immer ganz dicht an sein Ohr herangehalten hat. Ein Termin in einer Pädaudiologie bringt schließlich Gewissheit.
„Anfangs hat Joris Hochleistungshörgeräte getragen“, sagt Inga Neutzner, „aber es stand zu befürchten, dass das auf Dauer keine Lösung sein würde. Mit der Zeit ist dann sein Hören immer schlechter geworden.“ Das Ziel: Zur Einschulung sollte Joris richtig hören können. Zumindest auf einem Ohr.
Implantat übernimmt Funktion des Innenohrs
Also erfolgt 2020 die erste Operation im Hörzentrum Südwestfalen am Josefshospital der Katholischen Krankenhaus GmbH in Hagen: Joris bekommt ein Cochleaimplantat. Ein Gerät, das die Funktion des Innenohrs übernimmt. „Es gibt einen Prozessor, der die Signale aufnimmt“, erklärt Andrea Breinhild-Olsen, die Therapeutische Leitung des Hörzentrums, die Joris bei der Nachsorge unterstützt, „das wiederum wird gesendet an das Implantat in der Hörschnecke und dann an den Hörnerv weitergeleitet.“
Getauscht werden müssen die Geräte vermutlich nicht mehr. Das Innenohr wächst nicht. „Es ist auch bei Erwachsenen noch so groß wie bei der Geburt“, erklärt Andrea Breinhild-Olsen. „Die Energieversorgung wiederum erfolgt über den äußeren Bereich, der ja gut zugänglich ist.“
Eine neue Qualität des Hörens
Für Patienten wie den kleinen Joris bedeuten Cochlea-Implantate eine ganze neue Art, eine neue Qualität des Hörens. „Deshalb“, so sagt Andrea Breinhild-Olsen, „ist die weitere Unterstützung für ihn so wichtig.“ Sie üben das Hören, sie üben Wörter, sie spielen Spiele. Und die Aufgaben, die Joris dabei lösen muss, werden langsam immer schwieriger, immer anspruchsvoller.
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Nach der ersten OP im Jahr 2020. Und jetzt nach dem zweiten Eingriff am rechten Ohr, der vor wenigen Wochen in der Hagener Klinik erfolgt ist.
Schnappi und Hektor helfen beim Hören
„Schnappi“ und „Hektor“ heißen die beiden Implantate, die Joris wieder hören lassen. Er selbst hat sich diese Namen überlegt. Blau und grün sind „Schnappi“ und „Hektor“, die gut sichtbar hinter Joris Ohren und an seinem Hinterkopf sitzen. Auffällige Farben, weil Joris die Geräte nicht verstecken will. Ist er doch so froh, dass es sie gibt, dass sie ihn zum ersten Mal in seinem jungen Leben so richtig hören lassen. Dinge, die er bislang noch gar nicht wahrgenommen hat.
„Ich gehe in Bochum zur Schule, in die dritte Klasse“, erzählt Joris, „fahre täglich mit dem Bus dorthin.“ Zur Schule am Leitenhaus, einer Einrichtung, an der Implantate, wie Joris sie trägt, im Alltag eine Selbstverständlichkeit sind. Es ist eine Einrichtung, die sich auf Kinder mit Hörbeeinträchtigung spezialisiert hat.
Wichtige Nachsorge
Ob das so bleiben muss, ist offen. Ein Vierteljahr dauert die Nachsorge in der am Hörzentrum Südwestfalen. „Das zweite Ohr ist noch nicht so weit“, sagt Andrea Breinhild-Olsen. „Das andere wiederum muss lernen, sich ein bisschen zurückzunehmen.“
Daran arbeiten sie gemeinsam, die Therapeutin und ihr kleiner Patient. „Es mag sein, dass Joris dann nach der Grundschulzeit auf eine ganz normale Schule wechseln kann“, sagt Inga Neutzner, „aber es kann auch sein, dass der Betrieb mit 25 Kindern oder mehr ihn am Anfang noch überfordert.“ Je mehr Menschen, desto mehr Geräusche. Das kann für jemanden, dessen Gehör beeinträchtigt ist, anstrengend sein. „Wenn es so weit ist, kann Joris auch selbst mit entscheiden.“
Alles unter einem Dach
Zunächst trainiert er weiter mit Andrea Breinhild-Olsen. An jenem Hörzentrum, an dem er auch operiert worden ist. „Diagnostik, Operationen, Nachsorge – alles unter einem Dach“, sagt Inga Neutzner, „das empfinden wir als einen riesigen Vorteil. Alle, mit denen wir hier zu tun haben, kennen Joris und seine Vorgeschichte. Diese Operationen, die Implantate und die Nachversorgung – all das hat ihm so viele Lebensqualität gebracht...“
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Joris nimmt die nächsten Dose vom Tisch, rappelt daran. Hört, überlegt. „Sand“, sagt er, lacht, öffnet den Deckel und schaut hinein. „Sand, der ein bisschen stinkt.“ Er hat es gerochen. Aber er hat es vor allem gehört. „Ich bin richtig stolz auf dich“, sagt Andrea Breinhild-Olsen und legt ihren Arm und Joris. Joris, der Sonnenschein, der jetzt endlich richtig hören kann.