Haspe. Das Thema Pflegenotstand könnte im Hasper Krankenhaus bald der Vergangenheit angehören. Denn es gelingt, aus der Ferne Personal zu akquirieren.
Sie sind keinesfalls eine Notlösung, sondern vielmehr eine Bereicherung. Sie bringen trotz eines erlebten Kulturschocks ein besonderes Maß an Energie und Motivation mit. „Neben einer hohen Fachlichkeit ist es vor allem ihre Fröhlichkeit, die sie in den Teams, aber auch bei den Patienten sowie den Betreuten so beliebt macht“, erzählt Evelyn Lemke, Pflegedienstleitung im Volmarsteiner Spezialpflege-Haus Bethanien, über die vorzugsweise weiblichen Mitarbeitenden, die in den vergangenen Jahren aus dem Ausland gezielt den Weg zur Evangelischen Stiftung (ESV) gefunden haben. Bis zum Jahresende werden 25 weitere, fertig ausgebildete Pflegekollegen mit erster Berufserfahrung vorzugsweise aus dem indischen Bundesstaat Kerala in Hagen eintreffen. „Wir sind damit auf einem guten Weg, unsere Pflegenotstandsprobleme zu lösen“, spricht Karin Kruse, Pflegedirektorin des Evangelischen Krankenhauses in Haspe sowie der Orthopädischen Klinik Volmarstein einen Satz aus, den in Zeiten des vielzitierten Pflegenotstandes nur wenige ihrer Kollegen in ähnlicher Managementfunktion formulieren würden.
Alle Bewerber erhalten Chance
Ein Engpass, an dem in den vergangenen Jahren angesichts der massiven Konkurrenz zwischen den Häusern im Ruhrgebiet auch die Volmarsteiner Stiftung mit ihren zahlreichen Angeboten in Hagen litt. „Früher hatte ich einen halben Meter Bewerbungen auf dem Tisch liegen“, deutet Kruse mit der Hand einen gewaltigen Mappenstapel an, „heute lade ich jede examinierte Kraft zum Bewerbungsgespräch ein – und dabei steht uns die Verrentungswelle der geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge ja erst noch bevor“.
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Als Initialzündung bedurfte es bei der Hasper Bildungsakademie (BAVO) nicht einmal der ausdrücklichen Empfehlung von Ex-Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, Anwerbungsoffensiven im Ausland zu starten – zu diesem Zeitpunkt waren die ersten Pflegekräfte aus den Philippinen am Mops bereits im Dienst. Während in der Pflegeschule inzwischen Menschen aus 40 Nationen die Schulbänke drücken und eine internationale Community mit einer hohen Bleibe-Loyalität zum Haus die Ausbildungskurse bis auf den letzten Platz füllt, richtet sich der Fokus bei den bereits fertig ausgebildeten Pflegefachkräften nach den ersten positiven Erfahrungen mit Kräften aus Manila inzwischen auf den indischen Subkontinent.
Als Türöffner zu den dortigen „Nursing Colleges“ engagiert sich vor Ort die aus Indien stammende, ehemalige Hasper Krankenschwester Molly Ponattu, zugleich Vorstand in den Deutsch-Indischen Gesellschaft. Dank ihres Vermittlungsgeschicks und Vertrauensbonus machte sich im Februar dieses Jahres eine Delegation der Stiftung auf die fast 8000 Kilometer weite Reise, um dort Mitarbeiter für die heimische Kranken-, Alten- und Behindertenpflege zu gewinnen. „Mit einem fantastischen Erfolg“, erinnert sich André Massoli, Referent für Integrationsmanagement am Institut für internationale Integration Volmarstein (INVO) mit Sitz in Haspe. „Mit unserer Reise haben wir allein schon beim Blick auf die Kosten einen vielfach höheren Erfolg erzielt als die Bundesagentur für Arbeit mit ihrem „Triple-win“-Programm, die pro Stelle 7900 Euro Vermittlungshonorar aufruft und dazu mindestens 3000 Euro Zusatzkosten bei uns als Arbeitgeber on top kommen.“
Kräfte sind gut ausgebildet
„Diese Fachkräfte bringen schon eine sehr gute Ausbildung mit“, attestiert Pflegedirektorin Kruse den jungen Frauen eine Fachlichkeit auf dem Level eines Bachelor-Abschlusses kombiniert mit Praxis-Erfahrungen. Die Unterschiede in der Pflegekultur – in Indien übernehmen beispielsweise in den Krankenhäusern die Angehörigen die komplette Körperpflege – sowie die Spezialitäten des deutschen Pflegewesens werden den 25 Frauen, die noch in diesem Jahr in Haspe erwartet werden, im laufenden Krankenhausalltag nähergebracht. Hinzu kommen noch sogenannte Anpassungslehrgänge, die von der Bezirksregierung eingefordert werden, um die indischen Pflegexamen vollständig anerkennen zu können.
„Wir haben uns in Indien nicht bloß als Stiftung mit vielfältigen Job-Chancen vorgestellt, sondern in Kleingruppen auch sämtliche auftauchenden Fragen beantwortet sowie Abteilungen, die Bezahlungen und die Arbeitszeiten präsentiert“, erzählt Massoli von einem intensiven Austausch mit bis zu 800 Interessenten, die zum Teil mit ihren Familien in die deutsche Berufswelt blicken wollten. Darunter auch Frauen, die bereits verheiratet sind und eigene Kinder haben, aber den Lebensunterhalt für die gesamte Familie in Europa – in Indien liegt das Gehalt einer Pflegekraft bei gerade einmal 300 Euro – erwirtschaften möchten. Zudem besteht die Chance, nach einem Jahr die Familie nachzuholen: Die oft gut qualifizierten Ehepartner haben in Zeiten des Fachkräftemangels ebenfalls gute Jobchancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt.
„Unsere Aufgabe ist es vor allem, hier in Deutschland das einzulösen, was wir in Indien versprochen haben“, kennt Pflegedienstleiterin Evelyn Lembke die hohe Verantwortung. „,Sehe ich Sie dann wirklich wieder?‘ ist den Interessenten der direkte Kontakt zu den künftigen Chefs sehr wichtig. Dieses uns gegenüber entgegengebrachte Vertrauen müssen wir dann auch beweisen“, möchte das INVO-Team nicht zuletzt deshalb einen guten Job machen, um auch in Zukunft weitere Fachkräfte nach Haspe locken zu können.
Finanzielle Starthilfe vom Staat
„In der katholisch geprägten Region Kerala ist es für die Arbeitskräfte zudem sehr wichtig, an ein christliches Haus zu wechseln“, weiß der Integrationsmanager, dass die in Indien weit verbreiteten Englisch-Sprachkenntnisse längst nicht mehr allein den Auswanderungskompass bestimmt. „Mit unseren im Vergleich zu Kanada, Australien oder auch Neuseeland noch relativ überschaubaren Lebenshaltungskosten sowie den Krankenversicherungs- und Sozialstaat-Angeboten sind wir für die Menschen durchaus attraktiv“, bringen die Pflegekräfte sogar schon ein selbstfinanziertes B2-Sprachzertifikat (Goethe-Institut) mit. Diese Kosten übernimmt, gemeinsam mit dem Flugticket, übrigens die Evangelische Stiftung, sobald die künftigen Kollegen in Deutschland eintreffen. Obendrauf gibt es noch eine Starthilfe vom Bund in Höhe von 3000 Euro.
„Wir holen die Neuankömmlinge sogar direkt am Flughafen ab“, hat Pflegedirektorin Kruse den Termin schon im Kalender stehen, „das sind wir allein schon den Eltern schuldig, die ihre Kinder letztlich in einem fernen Land in fremde Hände geben.“ „Außerdem kümmern wir uns um die anstehenden Behördengänge, ein Bankkonto, die Versicherungen, aber auch um die Anbindungen beispielsweise in einer Kirchengemeinde oder einem Sportverein“, beschreibt Integrationsmanager Massoli Teile seines breiten Aufgabenfeldes. Ganz wesentlich ist auch die Bereitstellung eines qualitätvollen Zuhauses, was meist in enger Kooperation mit der Gemeinnützigen Wohnstätten-Genossenschaft (GWG) in Form von Wohngemeinschaften gelingt.
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Ein perfekter Rahmen für einen Start in einem Land, in dem nicht bloß die Pflegekultur eine ganz andere ist. Doch bei der Evangelischen Stiftung Volmarstein sowie dem INVO-Team ist man überzeugt, hier eine Tür aufgestoßen zu haben, die angesichts der zunehmend wichtiger werdenden Fachkräfteanwerbung aus dem Ausland sich beispielgebend entwickeln könnte. „Vielleicht lässt sich das Spektrum ja sogar noch ausweiten“, denkt Massoli an Jobbilder beispielsweise aus dem Erzieher- oder Heilpädagogen-Berufsfeld. „In unseren Augen macht es tatsächlich Sinn, langfristig in Indien präsent zu sein, weil es dort aufgrund der relativ jungen Bevölkerungsstruktur sogar einen Überschuss an gut ausgebildeten Pflegekräften gibt. Eigentlich müssten wir dort jedes Jahr hinfahren.“ Aber zunächst gilt es, erst einmal als Top-Arbeitgeber abzuliefern. Denn eine wohlwollende Mund-zu-Mund-Propaganda zählt auch in Indien als wichtigstes Gütesiegel.