Hagen. Wenn es in der Medizin um Leben und Tod geht, stehen auch ethische Fragen in Raum. Ein Komitee nimmt sich dieser Fragen gewissenhaft an.
Was ist medizinisch möglich, was ist medizinisch sinnvoll, was ist medizinisch geboten und was will eigentlich der Patient? Fragen, die zusammengefügt ein komplexes Spannungsfeld ergeben, das immer wieder die Behandlungsstrategie mitbestimmt. In den Corona-Jahren wurden diese oft auch ethischen Abwägungen plötzlich für jeden ganz konkret, als die Kliniken angesichts der sich rasant ausbreitenden Pandemie schnell an ihre Versorgungsgrenzen stießen. Plötzlich drohten angesichts der Überlastungen dramatische Entscheidungsprozesse, welchen Patienten mit welcher Prognose man noch welche medizinische Versorgung überhaupt zukommen lässt. Die Vokabel „Triage“ geisterte über die Flure der Hospitäler – die mögliche Hilfe für die Patientenflut wurde – zumindest auf dem Papier – priorisiert.
Sicherheit für Patienten und Mitarbeiter
Zentrale Aufgabe eines Klinischen Ethik-Komitees (KEK) ist es, in Form eines Ethischen Konsils (EK) betroffenen Menschen in ethischen Krisensituationen zur Beratung zur Verfügung zu stehen. Ein EK ist eine ethische Beratung unter all den Personen, die mit der Behandlung eines Patienten befasst sind, wenn es Unklarheiten bezüglich der weiteren Behandlung gibt. Sie ist auf einen konkreten Fall bezogen, der auf einer der Stationen oder Abteilungen auftritt.
Bei dem Ethischen Konsil soll bei der Entscheidungsfindung über die weitere Therapie bei kritisch kranken Patienten der (mutmaßliche) Wille des kranken Menschen in seiner jetzigen Situation ermittelt und berücksichtigt werden, so dass alle an der Therapie Beteiligten davon ausgehen können, weiterhin zum Wohle des Patienten zu handeln.
Ein weiteres Ziel ist die Erarbeitung von Leitlinien für den ethischen Umgang mit wiederkehrenden klinischen Problemsituationen. Sie geben eine begründete Orientierung für die Urteilsbildung im konkreten Einzelfall medizinischer und pflegerischer Entscheidungen.
Patienten und deren Angehörigen möchte das KEK die Gewissheit geben, dass ethische Problemlagen im Klinikum ernst genommen und kompetent bearbeitet werden. Eine Kultur des ethisch reflektierten Handelns soll bei der Patientenversorgung und bei organisatorischen Abläufen am Klinikum die Zufriedenheit der Patientinnen und Patienten wie auch der Mitarbeitenden erhöhen.
„Wir haben damals ein Triage-Papier vom Ethik-Komitee entwickelt – wir waren bestens aufgestellt“, erzählt Krankenhauspfarrer Günter Faust, zugleich Vorsitzender dieses Gremiums beim Katholischen Krankenhaus Hagen. 13 Leute aus unterschiedlichsten Bereichen des Hauses sind dort seit September 2007 zusammengeführt: Vertreterinnen und Vertreter aus Medizin und Ärzteschaft, Pflege, Verwaltung, Geschäftsführung und Seelsorge stellen sich dort komplexen Fragestellungen, die sowohl die Hospital-Standorte als auch das Hedwigsheim betreffen.
Gesamtbetrachtung der Fälle
Vor 16 Jahren wurde immer häufiger das Bedürfnis formuliert, bei schwierigen Situation eine Gesamtbetrachtung einzelner Fälle anzustellen und nicht bloß die voranschreitende Medizin als Taktgeber der Entwicklung den Rhythmus vorgeben zu lassen. „Von Anfang an standen Fragestellungen wie ,Was steht uns an, was können wir mit befürworten, wo sind unsere Grenzen?‘ im Mittelpunkt“, umreißt Faust die Komplexität der Thematik. Sollte man alles, was medizinisch machbar ist, auch tatsächlich tun?
Dabei spielt naturgemäß die Patientenverfügung eine zentrale Rolle. „Da gibt es immer wieder Situationen, wo man nicht ganz eindeutig entscheiden kann, was jetzt genau das Richtige ist. Es geht um den Willen des Menschen, der zu berücksichtigen ist, sowie die Frage, was das in dem individuellen Fall und dessen medizinischer Situation konkret bedeutet“, skizziert der Geistliche. Hier treffen knallharte Juristerei und medizinische Kunst sowie moralische Vorstellungen und ethische Grundsätze aufeinander.
Dreiklang der Verantwortung
Ein Dreiklang aus Ethik, Moral und Recht bestimmt die Arbeitsweise eines Ethik-Komitees. Wobei der geborene Partner der Ethik die Moral ist. Beide werden durchaus unterschiedlich voneinander abgegrenzt, aber ein gewisser Konsens ist schon vorhanden.
Unter der Moral versteht man die Sitten und Gebräuche, die konkret gelebt werden. Das „Man macht das so!“, das einem im Leben klarmacht, was man tun und was man nicht tun soll. Es sind Handlungsmuster, die oft uralt sind, die sich aber im Laufe der Zeit immer wieder ändern. Zentrale Instanz der Moral ist die Gesellschaft.
Die Ethik steht sozusagen eine Ebene über der Moral: sie reflektiert die Moral. Sie schaut auf die Sitten und Gebräuche der Gesellschaft, sie schaut auf die Werte, die in einer Gesellschaft gelebt werden und versucht sie einzuordnen. Sie schafft ein Wertesystem, aufgrund dessen man in der Lage ist, eine bestimmte Handlung als ethisch gut oder schlecht zu beurteilen. Zentrale Instanz der Ethik ist das Gewissen.
Der dritte relevante Faktor ist der des Rechts: das Recht setzt die für den Erhalt der Gesellschaft wesentlichen Werte durch, indem Verstöße mit Sanktionen belegt werden. Zugleich muss es klären, wo eigentlich Regelungen und Gesetze nötig sind, um das Wertesystem durchzusetzen. Zentrale Instanz des Rechts ist das Gericht.
Die drei Faktoren, Ethik, Moral und Recht gehören eng zusammen und beeinflussen sich gegenseitig. Die Moral, das konkret gelebte Wertesystem, beeinflusst das Recht und die Ethik und bindet sie so an das konkrete Leben. Eine Ethik, die nicht an die Moral angebunden ist, wird zu einer luftleeren Diskussion. Ein Recht, das nichts mit dem konkreten Leben zu hat, wird nicht respektiert und damit irrelevant.
Die Gespräche in Reihen des Ethik-Komitees drehen sich dabei keineswegs bloß um den viel diskutierten, assistierten Suizid, sondern vorzugsweise um das medizinisch Machbare und Sinnhafte, aber ebenso Wirtschaftlichkeit. „Verlängert man ein Leiden oder ein Leben, gibt man dem ganzen noch einmal eine neue Qualität? Solche Gedanken stehen da immer wieder im Vordergrund.“
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Der Geistliche trifft dabei eine feine, aber klare Unterscheidung: „Wir geben Rat, keine Ratschläge – es sind Empfehlungen.“ Das Ethik-Komitee stellt sich sowohl den grundsätzlich-übergeordneten thematischen Auseinandersetzungen als auch den medizinischen Fallbesprechungen.
Empfehlungen statt Ratschläge
Dazu zählt ebenfalls der Anspruch, die Leitlinien des Deutschen Ethikrates auf das konkrete Handeln im Katholischen Krankenhaus herunterzubrechen und daraus einen eigenen Kompass zu entwickeln. Ergänzt wird das durch verschiedene Fortbildungen, die das inhaltliche Rüstzeug liefern, um in den Gesprächen mit Medizinern, Pflegekräften sowie Patienten und Angehörigen auf sicherem Fundament agieren zu können.
„Wenn man nur mit menschlichem Verstand und Gefühl an diese Fragen herangehen würde, steht man schnell auf dem Glatteis“, unterstreicht der Krankenhauspfarrer. „Was ist das Wohl jedes Einzelnen, was ist dessen Wille, was ist rechtlich möglich oder auch nicht möglich, wo stehen wir bei bestimmten Empfehlungen mit einem Bein vor dem Kadi, welche Prioritäten gilt es bei der Triage-Thematik zu berücksichtigen – das gilt es alles mit dem notwendigen inhaltlichen Rüstzeug im Hinterkopf abzuwägen.“
Es geht immer wieder darum, auf Grundlage eines humanen, aber auch christlichen Menschenbildes die Grenzen auszuloten. „Der Wille der einzelnen Person und das, was ihr gut tut, muss im Mittelpunkt bleiben“, räumt Faust ein, dass es im Ethik-Komitee durchaus zu Kontroversen kommen kann. „Am Ende eines Konsils steht ja nur eine Empfehlung. Die behandelnde Ärztin oder der behandelnde Arzt bleiben die Hauptpersonen. Wir nehmen keine Entscheidungen ab, sondern versuchen nur, eine Hilfestellung zu geben.“
Ringen um die beste Lösung
Wobei in einem solchen Konsil nur ein Teil des Ethik-Komitees mit den behandelnden Medizinern und Pflegekräften, aber auch den Angehörigen und Bevollmächtigten um die beste Lösung für die jeweilige Situation ringt. Allerdings nur, wenn es tatsächlich zu Kontroversen kommt: Mal sind es beispielsweise die Angehörigen, die in aussichtsloser Lage dennoch eine medizinische Maximalversorgung einfordern, mal treten sie mit dem Hinweis auf eine Patientenverfügung einem engagierten Mediziner auf die Füße. Oft ist es aber auch der Arzt, der Angehörigen nahebringen muss, dass eine weitere Gabe von Medikamenten lediglich ein perspektivloses Dahinsiechen verlängern würde.
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Neben den je nach Bedarf angesetzten Einzelfall-Konsilen, kommt das Ethik-Komitee in großer Runde vier- bis fünfmal im Jahr zusammen. Dabei stehen sowohl aktuelle Grundsatzfragen auf der Tagesordnung, aber es werden auch noch einmal Einzelfälle in dieser Runde, für die absolute Schweigepflicht besteht, reflektiert. Dabei ist das Ethik-Komitee angesichts der Herkunfts- und Glaubensvielfalt der Patienten längst nicht bloß entlang des christlichen Weltbildes orientiert: „Wir sind ein Krankenhaus zum Wohl aller Patienten. Wir respektieren daher jedes soziale und kulturelle Umfeld“, erinnert Faust daran, dass inzwischen fast alle Kliniken Deutschland über ähnliche Gremien verfügen – unabhängig von einer konfessionellen Orientierung.
Zwischen Moral und Ethik
„Alles was rechtlich möglich ist, muss nicht auch immer sinnvoll sein“, unterscheidet Faust sehr genau zwischen moralischen Vorstellungen, aus denen sich grundsätzliche Prinzipien für das eigene Handeln ableiten, sowie ethischen Grundlagen, die sich an objektiven Kriterien orientieren und somit stets überprüfbar sind. Vornehmste Aufgabe des Ethik-Komitees ist es daher immer wieder, alle Themen auf die aktuelle Situation – beispielsweise eine Corona-Pandemie oder auch Therapieziele – zu übertragen und auf veränderte gesetzliche Regelungen hin anzupassen: „Da geht es auch um künstliche Intelligenz, die Frage ,Wie weit darf man gehen?‘ und ,Wo ist die Wahrheit zu finden?‘“. Ebenso stehen auch immer wieder Moralverschiebungen oder auch medizinische Chancen, Risiken und Grenzen auf der Tagesordnung, die sich schleichend ergeben.
Einen Krankenhausbetrieb ohne Ethik-Komitee kann sich der Krankenhausseelsorger nach 14 Jahren Mitgliedschaft heute gar nicht mehr vorstellen: „Ich würde das vermissen, weil solche Fragen immer wieder auftauchen. Immer wieder werde ich bei Besuchen auf den Stationen mit Fragen konfrontiert, was denn noch ethisch vertretbar sei. Das wird nie langweilig.“