Hagen. Frühchen Roni kommt in der 23. Schwangerschaftswoche zur Welt: Im AKH-Perinatalzentrum helfen Mediziner der Familie durch die schwierige Zeit.
Roni Tekin hatte keinen einfachen Start ins Leben. Am 8. Februar kommt er nach der vollendeten 23. Schwangerschaftswoche mit einem Gewicht von knapp 480 Gramm auf die Welt. Nur, damit man sich das vorstellen kann: Der kleine Junge wiegt damit etwa so viel wie zwei Päckchen Butter. Doch Roni zeigt von der ersten Sekunde an, dass er leben will. „Roni ist geboren und hatte sofort eine wahnsinnige Muskelspannung. Da war klar: der Junge will leben“, erinnert sich Dr. med. Jan Claudius Becker, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin an den Moment von Ronis Geburt.
Knapp vier Monate hat Roni jetzt auf der Früh- und Neugeborenen-Station des Perinatalzentrums im Agaplesion Klinikum Hagen verbracht. Für Ronis Eltern, Yasin und Akyal Akiol, waren die vergangenen Wochen eine Achterbahnfahrt der Gefühle.
„Wir haben in diesen vier Monaten alles erlebt“
„Wir haben in diesen vier Monaten alles erlebt. Von großen Sorgen, ob Roni es schaffen wird über eine Mischung aus Hoffnung und Angst bis hin zum größten Glück“, sagt Yasin Akiol. Die Frühgeborenen-Station sei mittlerweile ein zweites Zuhause für die jungen Eltern. Anfang Juni, kurz nach seinem ursprünglich errechneten Geburtstermin, durfte der kleine Mann mit etwa 2000 Gramm das Krankenhaus nun aber verlassen und sein richtiges Zuhause kennenlernen.
Abteilungen unter einem Dach
Dass es Roni mittlerweile so gut geht, hat er in erster Linie seinem starken Überlebenswillen zu verdanken, aber auch der professionellen Versorgung durch das Team des Perinatalzentrums am Klinikum. „In unserem Perinatalzentrum arbeiten die Geburtshilfe und die Frühgeborenen-Intensivmedizin gemeinsam unter einem Dach“, erklärt Dr. Jan-Claudius Becker. Das Perinatalzentrum verfügt über sechs Beatmungsgeräte auf der Kinder-Intensivstation und bietet somit für Frühgeborene und Risikoschwangere mit kindlichen oder mütterlichen Erkrankungen und für Mehrlingsschwangere eine sichere medizinische Gesamt-Versorgung.
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Die Versorgung von Frühgeborenen hat in Hagen eine lange Tradition. Denn Hagen war eines der ersten Perinatalzentren in Deutschland, damals allerdings noch nicht unter diesem Namen. Eine spezielle intensivmedizinische Versorgung von Frühgeborenen gibt es bereits seit 1983. „Unser Zentrum ist mittlerweile eines der größten Einrichtungen in der Region und leistet auf höchstem Niveau, dem sogenannten Level 1, die Versorgung von Müttern und Kindern, vor, während und nach der Schwangerschaft“, so Becker.
Perinatalzentrum: Betreuung ab der Grenze zur Lebensfähigkeit
Ein Perinatalzentrum der Stufe 1 darf Frühgeborene ab der Grenze zur Lebensfähigkeit betreuen. Voraussetzungen sind dafür umfangreiche Qualifikationen der verantwortlichen Ärzte in den geburtshilflichen und neonatologischen Abteilungen sowie der Hebammen. Insgesamt gibt es deutschlandweit vier Versorgungsstufen in der Betreuung von Früh- und Neugeborenen. Perinatalzentren unterliegen besonders strengen Qualitätsüberprüfungen. Die Patienten kommen aus dem Ennepe-Ruhr-Kreis, Märkischen Kreis, teilweise dem gesamten Sauerland in die Volmestadt.
Nach Osten befinden sich die nächstgelegenen Level 1-Zentren in Lippstadt, Hamm, Paderborn, nach Süden sind es Siegen, nach Westen Wuppertal und nach Norden Witten und Dortmund. „Teilweise kommen Risikoschwangere auch von weiter her. Im letzten Jahr teilweise aus einem Kreis von mehr als 50 Kilometern Entfernung“, so Jan-Claudius Becker.
Großer Ansporn
Hiltrud Nevoigt, Oberärztin der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe, arbeitet seit 30 Jahren in der Geburtshilfe, 15 Jahre davon an der Grünstraße. Sie kennt viele Geschichten wie die von Roni. Und sie ist immer wieder stolz darauf, was das gesamte Team gemeinsam leisten kann. „Es sind diese Geschichten, die uns jeden Tag aufs Neue anspornen und motivieren alles zu geben.“ Doch es wird auch immer eine Grenze geben, betonen Becker und Nevoigt.
Die Forschung sei weit und die technischen Möglichkeiten würden immer besser, „aber mit 22 Wochen geraten wir einfach an unsere Grenzen und es wird auch immer eine Grenze bleiben. Ganz egal, wie weit die technischen Möglichkeiten sich noch entwickeln“, so der Chefarzt. Für Frühgeborene wie Roni Tekin sei besonders die Atmosphäre in den ersten Tagen nach der Geburt wichtig. „Die Frühchen kommen völlig unvorbereitet zur Welt und erleben so einen enormen Stress durch die Geburt. Sie kommen aus einem warmen und geschützten Raum und werden von jetzt auf gleich der Schwerkraft, dem Licht und dem Lärm ausgesetzt“, sagt Dr. Jan-Claudius Becker.
Genau dieser Stress könne negative Folgen auf das Gehirn der Frühgeborenen haben. Deshalb sei es umso wichtiger, diese Stressfaktoren auf ein Minimum zu reduzieren und den Wärmeverlust so gering wie möglich zu halten. Die größte neonatologische Kunst liegt darin, diesen Übergang so sanft wie möglich zu gestalten. „Die Kinder, die in der Regel per Kaiserschnitt zur Welt kommen, werden vom OP-Saal deshalb direkt in den Raum nebenan zu den dort bereitstehenden Kinderärzten gebracht, den wir innerhalb weniger Minuten aufheizen können“, erklärt Hiltrud Nevoigt.
Neben der Betreuung vor und während der Schwangerschaft, gehört auch die Nachsorge zum Leistungsspektrum des Perinatalzentrums: „Dafür gibt es den sogenannten Bunten Kreis, das ist eine sozial-medizinische Nachsorge. Dafür gehen Intensiv-Krankenschwestern von uns zu den Familien nach Hause, um auch weiterhin gewährleisten zu können, dass sich alles in sicheren Bahnen entwickelt. Die meisten Kinder brauchen Unterstützung und müssen besonders gefördert werden, dazu gehören auch Kontrolluntersuchungen oder Physiotherapie“, erklärt Becker.
Auch Roni wird in den kommenden Monaten regelmäßig ins Perinatalzentrum zur Nachuntersuchung müssen. Dr. Hiltrud Nevoigt und Dr. Jan-Claudius Becker freuen sich schon jetzt, Roni Tekin noch einige Male wiederzusehen und seine Entwicklung auf diesem Weg noch ein kleines Stück weiter begleiten zu dürfen.