Hagen. Lukas kann nur medizinische Nahrung essen. Seit Monaten ist diese nicht lieferbar. Eine Familie aus Hagen schreibt Brandbrief an den Minister:

Die Angst raubt Melanie und Sven Reuter in vielen Nächten den Schlaf. „Man wälzt sich nachts hin und her, rechnet nach, wie viele Joghurts man noch hat – wie lange wir unseren Sohn noch versorgen können“, sagt Melanie Reuter aus Hagen. Ihr Sohn Lukas ist seit seiner Geburt auf spezielle medizinische Nahrung angewiesen. Für ihn ist sie lebensnotwendig. Genau diese medizinische Nahrung aber ist mittlerweile seit Monaten nicht mehr lieferbar.

„Wir kommen mit unseren Restbeständen vielleicht noch vier Wochen aus“, sagen die Eltern. Für sie bedeutet die Situation Kopfzerbrechen und Unsicherheit darüber, wie lange sie die Versorgung ihres Kindes sicherstellen können. Eine positive Botschaft aber gibt es bereits: Das Unternehmen Danone hat nach einer Anfrage der Redaktion zugesichert, die Familie im Laufe der Woche mit einer Charge zu beliefern. Ob danach neue Lieferengpässe drohen? Offen.

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Lukas strahlt und reißt seinen Nutrini-Joghurt auf, löffelt ihn in zwei Minuten weg – „fertig“, sagt er stolz und lächelt. Es ist das einzige Lebensmittel, das er überhaupt anrührt. „Als Baby hatte er einen Bauchwanddefekt“, erklärt Melanie Reuter. Ein Teil des Darmes tritt dabei aus der Bauchhöhle des Embryos in die Fruchthöhle. Hinzu kommt ein angeborener Herzfehler. Was folgten waren allein fünf Operationen im ersten Lebensjahr. „Er musste lange über eine Magensonde ernährt und zeitweise beatmet werden, er musste sich aufgrund seiner Erkrankungen täglich mehrmals erbrechen“, erinnert sich die Mutter an die schwierige Zeit zurück.

Schwierige Zeit hat ein Trauma hinterlassen

Diese Zeit hat neben einer Entwicklungsstörung ein Trauma bei dem kleinen, so fröhlich wirkenden Jungen hinterlassen. Er rührt nichts an, außer eben den Beeren-Nutrini Joghurt und seine Trinknahrung. „Bei allen anderen Lebensmitteln verweigert er. Manchmal muss er sich aus Angst übergeben“, sagt seine Mutter, die mit ihm auch zur Therapie geht. Bis er aber normale Nahrung zu sich nehmen kann, wird es noch lange dauern. „Bis dahin ist diese medizinische Nahrung für ihn lebensnotwendig.“

Lukas Reuter (10) aus Hagen ist auf medizinische Ernährung angewiesen. Die Trinknahrung/kalorienreichen Joghurts sind aber seit 10 Wochen nicht mehr lieferbar. Sein Eltern Melanie und Sven Reuter sorgen sich um seine Versorgung
Lukas Reuter (10) aus Hagen ist auf medizinische Ernährung angewiesen. Die Trinknahrung/kalorienreichen Joghurts sind aber seit 10 Wochen nicht mehr lieferbar. Sein Eltern Melanie und Sven Reuter sorgen sich um seine Versorgung © WP | Laura Handke

Kalorienreicher Nahrungsersatz

Bei den Joghurts und Getränken, die der kleine Junge zu sich nimmt, handelt es sich um besonders kalorienreiche medizinische Ernährung, die so vitamin- und ballaststoffreich ist, dass sie normales Essen ersetzen kann. Die Nahrung wird beispielsweise auch bei anderen Erkrankungen wie Magersucht, nach bestimmten Chemo-Therapien, Gedeihstörungen, neurologischen Beeinträchtigungen oder Schluckstörungen verabreicht.

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Im Schnitt isst Lukas sechs bis acht Joghurts pro Tag, und dazu gibt es noch einen Kompaktdrink. „Eigentlich werden wir alle zwei Monate von der Firma mit rund zehn neuen Kartons beliefert“, sagt Vater Sven Reuter. In einem Karton sind 48 Joghurts. Er reicht also für gut eine Woche.

Lukas Reuter isst täglich etwa acht dieser Joghurts. Hinzu kommt noch ein bestimmter, medizinischer Kompakt-Drink
Lukas Reuter isst täglich etwa acht dieser Joghurts. Hinzu kommt noch ein bestimmter, medizinischer Kompakt-Drink © WP | Laura Handke

Brandbrief an Gesundheitsminister

Seit mehr als zwei Monaten aber ging nichts mehr: keine Lieferung, kein Nachschub. „Wir haben in den letzten Wochen alle Apotheken abtelefoniert, um irgendwo noch Restbestände zu bekommen. Für jede Apotheke brauchten wir vom Kinderarzt ein eigenes Rezept. Mittlerweile sind auch dort die Bestände erschöpft“, sagt Sven Reuter resigniert. „Alle reden immer nur über Fiebersäfte oder Antibiotika, die nicht mehr erhältlich sind. Über die medizinische Nahrung spricht aber niemand.“

Für die Familie eine echte Nervenprobe. Sie möchte die Firma nicht an den Pranger stellen, nein. Für Lieferengpässe können ja auch die Unternehmen nichts. Sie möchte das Problem aber in die Öffentlichkeit rücken, hat Brandbriefe an NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann und Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach geschrieben. „Wir wissen ja nicht, wie es auf Dauer weitergeht“, sagt Melanie Reuter und zuckt mit den Schultern – „vielen Familien geht es bestimmt ähnlich.“

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Die Angst bringt Melanie Reuter und ihren Mann in vielen Nächten um den Schlaf. Jetzt können sie zumindest kurzfristig aufatmen: Das Unternehmen hat nach der Anfrage den Kontakt zur Familie gesucht. „Im persönlichen Gespräch konnten wir der Familie versichern, dass die benötigten Nutrini-Produkte in den kommenden Tagen postalisch bei ihnen zuhause zugestellt werden“, teilt eine Sprecherin von Danone (Nutricia ist eine Marke von Danone) mit.

Engpässe bei Inhaltsstoffen

Die Lieferketten im Gesundheitswesen seien massiv unter Druck „und es kommt bei vielen Unternehmen – so auch bei uns – immer wieder zu Engpässen bei wichtigen Inhaltsstoffen sowie Verpackungsmaterialien“, so die Sprecherin. Das Unternehmen beziehe Material nur von zertifizierten Lieferanten, die den strengen Anforderungen für medizinische Ernährungsprodukte entsprechen. Auf andere Lieferanten könnten sie nicht ohne Weiteres ausweichen. Dies führe dazu, dass einige Produkte temporär nicht flächendeckend verfügbar seien. „Die daraus resultierenden Unannehmlichkeiten bedauern wir zutiefst. Wir arbeiten mit Hochdruck an Lösungen, um die Produktverfügbarkeit bestmöglich sicherzustellen und rechnen ab dem zweiten Halbjahr mit einer Entspannung“, heißt es vom Unternehmen. Betroffene Familien könnten sich ans Beratungsteam wenden. Zudem könne der Arzt oder das Ernährungsteam Alternativen empfehlen.

In Lukas Fall aber gibt es diese Alternativen nicht. „Und ihn zu anderem Essen zu zwingen, das wäre genau der falsche Weg“, sagt seine Mutter.