Hagen. Der erste große Luftangriff sollte Hagen im Sommer 1943 treffen. Vermutlich wären hunderte Menschen ums Leben gekommen. Warum es dazu nicht kam.
Die Ruhrschlacht („Battle of the Ruhr) hatte für die Alliierten im Zweiten Weltkrieg entscheidende Bedeutung. Tausende Menschen kamen um Leben. In der Jahren 1942 und 1943 hatten immer wieder alliierte Bomber Städte im Ruhrgebiet und im Rheinland in Trümmer gelegt. Neue Forschungen des Hagener Historikers Dr. Ralf Blank, Leiter des Fachdienstes Wissenschaft, Museen und Archive der Stadt, haben jetzt ergeben, dass auch Hagen am Ende der Ruhrschlacht vor 80 Jahren angegriffen werden sollte.
Welche Rolle spielte die Stadt Hagen in der „Ruhrschlacht“?
Ralf Blank: Bis zum letzten Jahr habe ich gedacht, dass Hagen keine Rolle gespielt hat. Doch eine Sichtung der Angriffsbefehle vom Hauptquartier des Bomber Command an seine Angriffsverbände erbracht im vergangenen Jahr neue Erkenntnisse. Hagen war zwar wegen der Accumulatoren-Fabrik, die Batterien für U-Boote, Torpedos, Flugzeuge und Raketen fertigte, ein wichtiges Industrieziel. Diese Bedeutung wurde 1941 bis 1943 unterschätzt, weil die Alliierten kaum Geheimdienstinformationen über die Verteilung der deutschen Batterieherstellung hatten. Hinzu kam, dass der U-Boot-Krieg im Nordatlantik im Mai 1943 von deutscher Seite eingestellt wurde, so dass die Alliierten keine Notwendigkeit mehr sahen, offensiv gegen die U-Boot-Zulieferindustrie vorzugehen. Die Eisenbahnanlagen in Hagen waren zwar wichtig, aber erhielten erst im Frühjahr 1944 und ab Herbst 1944 eine Bedeutung für die Luftkriegsplanungen.
Was hat die Stadt denn dann zum Ziel gemacht?
Die Produktion von Edelstahl spielte in Hagen eine größere Rolle in den britischen Zielplanungen: Stahl in dieser Qualität wurde nur an wenigen weiteren Standorten wie in Bochum hergestellt. Als kleine Großstadt mit rund 150.000 Einwohnern war die Bedeutung Hagens mit dem Decknamen „Rainbow“ für Flächenangriffe jedoch zunächst gering.
Vortrag über die Ruhrschlacht
„Ruhrschlacht – Die Wende an der ‚Heimatfront‘ 1943“ – so ist ein Vortrag überschrieben, den am Mittwoch, 17. Mai, 18.30 Uhr, der Historiker Dr. Ralf Blank, im Kunstquartier Hagen, Museumsplatz 1, hält.
Die militärischen und politischen Entwicklungen im Jahre 1943 führte zur Wende im Zweiten Weltkrieg.
Der bis in das Frühjahr 1943 mit großen Versenkungserfolgen geführte U-Boot-Krieg der deutschen Marine musste im Mai des Jahres wegen steigender Verluste aufgegeben werden. Mit der Landung der Alliierten auf Sizilien begann ab Juli 1943 die Eroberung des europäischen Kontinents.
An der ‚Heimatfront‘ im deutschen Reichsgebiet kam es von März bis Juli 1943 zur „Battle of the Ruhr“. Das britische Bomber Command flog in diesem Zeitraum zahlreiche schwere Luftangriffe auf die Großstädte im rheinisch-westfälischen Industriegebiet. Ab Juni 1943 kam es zu ersten größeren US-amerikanischen Tagesangriffe.
Am 17. Mai vor 80 Jahren unternahm das Bomber Command eine Luftoperation – die Operation Chastise (Züchtigung) – gegen die Talsperren im Sauerland und in Nordhessen.
Der Vortrag wird in Kooperation mit dem Museums- und Archivverein Geschichtsfreunde Hagen veranstaltet. Der Eintritt ist frei.
Dennoch versuchte die Royal Air Force die Stadt zu treffen...
Ja, am Vormittag des 4. Juli 1943 erhielten die Einsatzstaffel vom Hauptquartier des Bomber Command einen Angriffsbefehl. Er wurde in den folgenden Stunden bis zum Abend ergänzt und bis in alle Einzelheiten festgelegt. Der Zeitpunkt des Angriffs lag am Ende der „Ruhrschlacht“, als bereits zahlreiche Großstädte in der Region zerstört waren.
Wie genau sah denn dieser Angriffsplan aus?
Um 2:27 Uhr – drei Minuten vor dem Angriffsbeginn, der sogenannten „zero hour“, sollte eine zweimotorige Mosquito aus rund 9000 Metern Flughöhe den Zielpunkt in Hagen durch das Funkleitsystem „OBOE“ mit langbrennenden, rotfarbigen Bodenmarkierungen kennzeichnen. Der sogenannte „Aiming point“ lag über der städtischen Hauptfeuerwache an der Ecke Lange Straße / Wilhelmstraße (heute Bergischer Ring) in einer Entfernung von 750 yards and 260 degrees von “Rainbow A“ – das war der Bereich des Eingangs zum Volkspark in der Hohenzollernstraße.
Was drohte Hagen?
Für den Angriff war das Verfahren „Musical Parramatta“ vorgesehen: eine Mischung aus grünen und roten Boden- und Kaskadenmarkierungen. Bis 2.55 Uhr sollten dann fünf Angriffswellen mit rund 400 Maschinen das Stadtgebiet mit Spreng- und Brandbomben bombardieren – also ein typischer Flächenangriff. Gemessen an der Einsatzstärke des Bomber Command im Sommer 1943 war das eine mittelgroße Luftoperation.
Aber zu diesem Luftangriff kam es dann ja nicht...
Richtig. Für 19.15 Uhr war das Briefing der Besatzungen vorgesehen, ab 23.30 Uhr sollten die Maschinen starten; seit dem späten Nachmittag standen sie munitioniert und betankt auf ihren Flugplätzen. In der „Meteorological Conference“ am Abend fiel wegen der ungünstigen Flugwetterlage um 19.10 Uhr dann aber die Entscheidung, die angelaufene Operation gegen Hagen abzusagen. Das Angriffsvorhaben wurde an den folgenden Tagen und Wochen auch nicht wiederholt.
Wie stellte sich die Situation im Sommer 1943 zum Ende der Ruhrschlacht dar?
Ende Juli 1943 lagen bis auf Hagen, Solingen und Bonn alle westdeutschen Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern in Trümmern. Drei Monate später – in der Nacht des 1./2. Oktober 1943 – wurde erstmalig auch Hagen von einem britischen Flächenangriff mit 243 Lancasters und acht Mosquitos getroffen. Es entstanden umfangreiche Zerstörungen, über 250 Menschen fanden den Tod.
Welche Ziele verfolgte denn das britische Bomber Command 1943?
Das Rhein-Ruhr-Gebiet stand seit 1940 ganz oben auf den Ziellisten. Angegriffen wurden die Stahlindustrie, Hydrierwerk für synthetisch aus Steinkohle erzeugtes Benzin und Kokereien. Auch die Verschiebebahnhöfe an Rhein und Ruhr waren seit 1940 wichtige Angriffsziele. Seit Februar 1942 hatte das Bomber Command eine neue Direktive. Durch Flächenangriffe mit einem hohen Anteil von Brandmunition auf die dicht bebauten Wohn- und Geschäftsviertel in Großstädten sollte die Zivilbevölkerung demoralisiert werden. Im Frühjahr und Sommer 1942 kam es zu einer ersten „Ruhrschlacht“, wobei Essen, Duisburg, Düsseldorf und Köln die Hauptangriffsziele waren.
Gibt es Unterschiede zwischen der „Ruhrschlacht“ 1942 und der im folgenden Jahr?
Die Briten konnten im Frühjahr 1943 auf eine größere Zahl von viermotorigen Langstreckenbombern wie die Lancaster, Halifax und Stirling zurückgreifen. Die älteren, zweimotorigen Bomber wurden im Verlauf der „Ruhrschlacht“ ausgemustert. Entscheidend war jedoch der erstmalig umfassende Einsatz von Radar und Funkleitverfahren. Anders als noch 1942 konnten die Bomberbesatzungen durch Wolken und Industrie-Smog „sehen“. So wurden Fehlwürfe, wie sie 1942 zahlreich vorgekommen waren, verhindert und die Bombardierungen erfolgten genauer. Durch den Einsatz von Funkleitverfahren wie OBOE und den ferngesteuerten Abwurf von farbigen Zielmarkierungsbomben konnten hunderte Maschinen relativ präzise ihre Angriffsziele bombardieren.
Welches waren die schwerwiegendsten Luftangriffe?
Besonders verlustreich waren die beiden Flächenangriffe auf die Wuppertaler Stadtteile Elberfeld und Barmen im Mai und Juni 1943. Sie forderten durch die erstmalig beobachteten „Feuerstürme“ durch den Massenabwurf von Brandbomben insgesamt über 5200 Menschenleben. Der Angriff auf Köln in der Nacht des 29./30. Juni 1943 forderte über 4500 Tote. Schwerwiegend waren die Folgen der Luftoperationen gegen die Talsperren im Sauerland und in Nordhessen in der Nacht des 16./17. Mai 1943. Dadurch sollte die Energie- und Wasserversorgung unterbrochen werden.
Waren auch Talsperren in der Umgebung betroffen?
Unter den Zielen war auch die Ennepetalsperre, die in der Angriffsnacht jedoch nicht von den zwei Lancasters getroffen wurde. Das hätte schwerwiegende Folgen für das Tal der Ennepe gehabt und für die Städte, die an diesem Fluss liegen. Dagegen zerstörte das Bomber Command die Möhnetalsperre. Eine gewaltige Flutwelle ergoss sich in den frühen Morgenstunden des 17. Mai durch das Ruhrtal. Auch der Hagener Norden wurde betroffen, die schwersten Flutschäden erstreckten sich jedoch von der Nachbarstadt Schwerte bis nach Neheim. Mehr als 1600 Menschen fanden in dieser Nacht den Tod – als Möhnekatastrophe ist die Luftoperation auf deutscher und britischer Seite bis heute ein Teil der Gedenkkultur.
Welche nachhaltigen Auswirkungen hatte die „Ruhrschlacht“?
Etwa 50.000 Menschen fanden bis Ende Juli 1943 den Tod im Ballungszentrum an Rhein und Ruhr. Neben politischen Maßnahmen setzte das NS-Regime ab Mai 1943 erstmalig die Bautruppe der Organisation Todt zur Beseitigung der Schäden in den zerstörten Städten und zur Beseitigung der Flutschäden im Ruhrtal sowie zum Wiederaufbau der Staumauer der Möhnetalsperre ein. In den Städten wurde die Flugabwehr ausgebaut, davon profitieren auch Städte wie Hagen, Wuppertal oder Remscheid, die bis dahin über einen geringen Flakschutz verfügten. Auch erfolgte eine Neuorganisation der Nachtjagd durch Verbände der Luftwaffe, die nun näher im Umkreis der Industriegebiet konzentriert wurden. Ab Juli 1943 kam es zur erweiterten Kinderlandverschickung (KLV) und zur Evakuierung von nicht kriegswichtigen Bevölkerungsteilen wie Behinderte, Greise, Frauen mit Kleinkindern sowie von Kindern und Jugendlichen in ihren Klassenverbänden der Schulen.
Welchen Schutz gab es für jene, die in den Städten blieben?
Da der Bau von Luftschutzbunkern bereits 1942 gescheitert war, legte das NS-Regimen ab August 1943 ein Stollbauprogramm auf, das weitgehend privat organisiert war. In den Randzonen der bombardierten Städte sollten ab Sommer 1943 Siedlungen aus Behelfsheimen die Rüstungsarbeiter unterbringen, deren Wohnungen durch die Bombardierungen zerstört worden waren. Zur Überwachung und Kontrolle von ausländischen Zwangsarbeitern und nicht konformes Verhalten in der deutschen Bevölkerung erhielt die Geheime Staatspolizei ab Sommer 1943 weitergehende Vollmachten, erfuhr einen Ausbau und konnte auf eigene Straflager zurückgreifen.