Hagen. Heinz Baer lebt eigentlich gern in Hagen-Wehringhausen. Und doch denkt er daran wegzuziehen. Eine Bestandsaufnahme aus einem Problemviertel.
„Es ist einfach wunderbar“, sagt Heinz Baer (63) aus Hagen. Er sagt das mit einer gehörigen Portion Sarkasmus. Denn während ihm der Satz entfährt, zeigt er einige Fotos, die er vor dem Discounter Aldi in Wehringhausen aufgenommen hat. Ein ausrangiertes Sofa ist darauf zu erkennen, Matratzen, Plastiktüten und ein zerstörtes Regal (oder was immer die Bretteransammlung einst dargestellt hat).
Müll, von seinen Besitzern achtlos und illegal auf der Straße entsorgt. Und das findet Heinz Baer überhaupt nicht wunderbar. Im Gegenteil: Seit 33 Jahren wohnt er mit seiner Frau in Wehringhausen, er hat sich hier immer wohl gefühlt, er liebt diesen Stadtteil, weil er ihn auf gemütvolle Weise an seine Vergangenheit im Kölner Studentenviertel erinnert, in dem er einst gelebt hat.
Und doch denkt er jetzt daran wegzuziehen: „Für uns stellt sich nach all der langen Zeit, in der wir durch Bekanntschaften und Freundschaften heimisch geworden sind, die Frage, ob wir hier überhaupt noch wohnen bleiben können.“
Hin- und hergerissen zwischen Bleiben und Gehen
Der Grund ist das, was auf den Fotos zu sehen ist: Müll. Müll, Rücksichtslosigkeit, Aggressivität, asoziales Verhalten. Wehringhausen stehe auf der Kippe. Dabei ist Wehringhausen für viele Menschen der attraktivste und lebenswerteste Stadtteil in ganz Hagen. „Eigentlich ein Stadtviertel, wie es im Buche steht“, sagt Baer.
Seine Überlegungen können beispielgebend stehen für das, was viele Wehringhauser denken und was ihnen missfällt. Er habe nie gedacht, dass er mal von „bestimmten Bevölkerungsgruppen“ sprechen müsse, sagt Baer, der pensionierte Hauptschullehrer. Dass sich seine Worte mal nach „rentnermäßigem Lamentieren“ anhören würden.
Sie wollten eigentlich gar nicht weg, sagt er. Aber er könne sich auch nicht vorstellen, noch länger hierzubleiben, wenn seine Frau, die als Heilpädagogin arbeitet, im nächsten Jahr in Rente gehe.
Zu viele Negativbeispiele
Denn sein Wehringhausen ist nicht mehr sein Wehringhausen. Denn der Müll, den er fotografiert hat, ist ein Beispiel für einen täglichen Anblick. Denn das Kind, das an ein Klettergerüst auf dem Spielplatz pinkelt und die Eltern sitzen daneben und sagen nichts, ist ein Beispiel für ein tägliches Geschehen. Denn der Mann, der seine Hunde frühmorgens um 5 Uhr im Innenhof dressiert und eine Stunde wie wild bellen lässt, ist ein Beispiel für ein tägliches Geschehen. Denn der Autofahrer, der über den Wilhelmsplatz brettert und Baer beschimpft, weil der es wagt, ihn darauf hinzuweisen, dass dieser Platz für Fahrzeuge gesperrt ist, ist ein Beispiel für ein tägliches Geschehen.
Heinz Baer kann viele solcher Beispiele aufzählen. Das Schlimme daran ist, dass sie zur Normalität geworden sind. Die Mehrzahl der Menschen verhalte sich anständig, sagt Baer, aber diejenigen, die sich daneben benähmen, gewännen mehr und mehr die Oberhand.
Wenn man sie anspricht, reagieren sie herausfordernd und ordinär. Überlässt man ihnen das Feld, hat man sowieso verloren. „Der Klügere gibt nach, heißt es ja. Aber wenn man immer nachgibt, haben am Ende die Dummen die Oberhand.“
Es war Liebe auf den ersten Blick
Er und seine Frau, sie wollten eigentlich gar nicht weg aus ihrem geliebten Wehringhausen, sagt Baer wiederholt. Er erinnert sich noch genau an den Tag, an dem sie erstmals aus Köln nach Hagen fuhren, weil seine Frau ein Vorstellungsgespräch hatte.
Die Ankunft am Bahnhof sei nicht gerade eine Offenbarung gewesen: „Es war ein total versiffter Regentag.“ Aber als sie in die Lange Straße einbogen und Wehringhausen entdeckten, hätten sie sofort gewusst, dass sie hier wohnen wollten.
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So kam es. 33 Jahre ist das jetzt her. Die Liebe zu Wehringhausen ist gerostet, aber nicht, weil sie mit der Zeit Patina angesetzt hätte, das hat sie nicht. Sondern weil Wehringhausen sich so sehr verändert. So rücksichtslos, laut und aggressiv geworden ist.
Wehringhausen kippt. Und diejenigen, die es am meisten lieben, wollen wegziehen.