Hagen. Sich offen zu ihrem Glauben zu bekennen, davor hat eine Jüdin der Gemeinde Hagen Angst. Über Diskriminierung und Sorgen im Alltag.

Ob sie Angst hat? Angst vor einem Anschlag – nein. Angst im Alltag, Angst, ihren Namen zu nennen, Angst, offen mit ihrem Glauben umzugehen – vielleicht schon. Also tauchen ihr echter Name und ein Foto hier nicht auf.

Dafür aber diese Geschehnisse, die einen den Glauben an das Gute verlieren lassen. In das Schulbuch ihrer Tochter haben Mitschüler Hakenkreuze gemalt. „Alle Juden gehören vergast“, stand da geschrieben. „Und du zuallererst.“

Und als ob das allein noch nicht ausreicht, um einen sprachlos zurückzulassen, erzählt sie noch von der Lehrerin, die offenbar witzig sein wollte und während der Gruppenarbeit im Klassenraum Folgendes fragte: „Warum kriegen Juden heute weniger Rente? Weil sie zwischen 1933 und 1945 nicht gearbeitet haben.“

Mitglied der Jüdischen Gemeinde

Die Mutter jüdischen Glaubens, nennen wir sie Anna, zweifelte selbst an ihrer Tochter, die heute 17 Jahre alt ist, als sie von den Geschehnissen an der Schule erfuhr: „Ich konnte das erst nicht glauben, habe gedacht, dass sie sich da etwas zusammenreimt. Erst als Mitschüler den Vorfall bestätigten, ist mir klar geworden, dass sich das tatsächlich so zugetragen haben muss.“

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Anna, 50 Jahre alt, verheiratet übrigens mit einem Nichtjuden, Anwältin, Mutter von drei Kindern, ist Mitglied der Jüdischen Gemeinde Hagen. Regelmäßig besucht sie die Synagoge an der Volme. Ein Gotteshaus, das von der Polizei bewacht wird und das im September des letzten Jahres ein 16-Jähriger in die Luft sprengen wollte.

Todbringender Plan

Hätte der Jugendliche mit syrischen Wurzeln seinen teuflischen, seinen todbringenden Plan in die Tat umsetzen können – vielleicht hätte es auch Anna getroffen. An dem Abend, als die Polizei das Gotteshaus an der Potthofstraße in der Hagener Innenstadt mit schwer bewaffneten Beamten plötzlich umstellte, war sie nicht dort. Am nächsten Morgen, so hatte sie geplant, wollte sie in der Synagoge beten.

Die Solidarität mit den Juden in Hagen ebbt ab. Die Erinnerung lässt nach. Monat für Monat, Woche für Woche, Tag für Tag ein kleines Stück mehr. Auch wenn sie durch den Prozess und das milde Urteil gegen den Täter, der eine Bewährungsstrafe erhielt, noch einmal hochkommt.

Idioten gibt es auf allen Seiten

„Dass die Empörung über einen langen Zeitraum aufrechterhalten bleibt, kann man nicht erwarten“, sagt Anna, die mit Blick auf den Jugendlichen, der das Attentat geplant hatte, von einem „Idioten“ spricht. „Das hat auch nichts mit seinem Glauben zu tun. Solche Idioten gibt es auf allen Seiten.“ Dieser aber wollte in Hagen zuschlagen, an einem Ort des Friedens Menschen töten, weil sie einen anderen Glauben haben. Und Extremisten wie dieser Jugendlich sorgen für eine latente Gefahr, die den jüdischen Alltag prägt.

Juden nehmen sie wahr. Wir nicht. Wir selbst sind es, die immer wieder ungläubig den Kopf schütteln, die abwiegeln, wenn wir hören, dass sich Juden nicht trauen, mit einer Kippa durch die Straße zu gehen. Wir denken: Natürlich kann sich in Hagen im Jahr 2022 jeder offen zu seinem Glauben bekennen. Warum denn nicht...?

Das Erleben von Unbehagen und Angst

Wir aber sind nicht betroffen. Wir erleben nicht dieses Unbehagen. Nicht diese Angst. Weder vor Radikalen islamischen Glaubens noch von ewig gestrigen Neonazis, die antijüdische Parolen grölen und Hakenkreuze malen. Auf Wände, an Bushaltestellen oder sogar in Schulbücher.

Das sind sichtbare Zeichen der Unterdrückung, der Diskriminierung. Aber es gibt auch die gefühlten, die, die man nur wahrnimmt, wenn man selbst einen anderen Glauben hat. „Ich habe schon den Eindruck, dass Christen in diesem Land bevorzugt werden“, sagt Anna. „Vieles, was in diesem Land geregelt ist oder passiert, wird mit der christlichen Kultur begründet. Dabei gibt es auch eine jüdische Kultur. Und eben so gut übrigens eine islamische. Wenn ein christlich getauftes Kind nicht mit in den Schulgottesdienst geht, spricht niemand darüber. Andersgläubigen wird das gern als fehlende Toleranz ausgelegt.“

Der Kampf um den Religionsunterricht

Noch ein Beispiel: Der Anspruch auf Religionsunterricht sei gesetzlich garantiert. „Ich fahre meine Kinder eigens nach Dortmund, damit sie dort unterrichtet werden können“, sagt Anna, „ich nehme das in Kauf, bestehe nicht auf einen Unterricht am Ort. Und trotzdem muss ich bei der Schulleitung vor jedem Halbjahr erneut darum kämpfen, dass meine Kinder an diesem Tag keinen Nachmittagsunterricht haben.“

Kinder, die zwar nicht ständig zum Beten in die Synagoge gehen, die sich aber doch als Juden identifizieren. „Sie essen beispielsweise kein Fleisch, das nicht koscher ist“, sagt Anna, die im Gegensatz zu einigen anderen Juden selbst am Samstag Auto fährt, auch telefoniert, aber versucht, kein Geld auszugeben.

Das Ritual einer jüdischen Familie

Es gibt diese schöne Tradition, dieses liebgewonnene Ritual am Ruhetag, der für die Juden mit dem Sonnenuntergang am Freitag beginnt und mit dem am Samstag endet. Eines, das die ganze Familie mitträgt. „Jeden Freitag backe ich das Schabbat-Brot“, sagt Anna. „Es gibt bei uns dann immer ein besonderes Essen. Es ist schön, wenn die Kinder da sind. Wir zünden Kerzen an, sprechen den Segen über das Brot.“

Zuhause, in den eigenen vier Wänden – zumindest da müssen jüdische Familien ihren Glauben nicht verbergen.