Hagen-Haspe/Kabul. Als afghanischer Flüchtling lebte Ali zwei Jahre in Hagen. Heute wohnt er mit seiner Familie wieder in Kabul – in Angst vor den Taliban.

Strahlend blau erstreckt sich der Himmel über der Stadt. Kein Wölkchen versperrt die Sicht auf die grauen Bergriesen am Horizont. Immer wieder lässt Ali (sein Familienname bleibt aus Sicherheitsgründen unveröffentlicht) seine Handy-Kamera von der Dachterrasse seines Hauses über die Straßen von Kabul kreisen. Kaum ein Fußgänger bewegt sich in den Mittagsstunden durch die Häuserschluchten der afghanischen Hauptstadt, nur ein roter Pkw-Kombi huscht um die nächste Kreuzungsecke. „Die Menschen haben Angst“, berichtet der Mittzwanziger, der 2015 als Flüchtling nach Hagen kam, aber vor lauter Heimweh inzwischen zu seiner Familie zurückgekehrt ist.

Gerne verbrachte Ali mit seiner Familie die Zeit im Umland von Kabul. Heute blickt er in eine ungewisse Zukunft und möchte aus Sorge vor den Taliban nicht erkannt werden.
Gerne verbrachte Ali mit seiner Familie die Zeit im Umland von Kabul. Heute blickt er in eine ungewisse Zukunft und möchte aus Sorge vor den Taliban nicht erkannt werden. © Unbekannt | Karin Thoma-Zimmermann

Ungewissheit schwebt seit der Machtübernahme der Taliban wie eine Glocke der Furcht über den Menschen. Die Hasperin Karin Thoma-Zimmermann, die dem jungen Familienvater einst die deutsche Sprache näherbrachte, hält bis heute per Facebook und WhatsApp engen Kontakt zu ihrem ehemaligen Schüler. „Er war damals schon sehr weit – wollte grammatisch immer alles ganz genau wissen“, titulierte die Hüterin der Hasper Kirmesesel ihn damals schon im freundschaftlichen Frotzel-Jargon als „Korinthenkacker“. Eine deutsche Vokabel, über die Ali bis heute noch schmunzeln kann. Auch wenn seine Gedankenwelt seit dem Abzug der letzten US-Soldaten vorzugsweise um seine verlorene Freiheit kreist, die er einst in Hagen schätzen lernte.

Der Klang des Krieges am Kursbrink

Zu Wochenbeginn schickte Ali gleich mehrere bedrückende Audio-Dateien aus Kabul zum Kursbrink auf die Höhen von Haspe. „Zu hören sind die markdurchdringenden Jet-Turbinen der amerikanischen F-18-Kampfflugzeuge, mit denen die US-Airforce von einem Flugzeugträger im Arabischen Meer aus das Ende der Evakuierungsbrücke am Kabuler Flughafen absichert“, erzählt Karin Thoma-Zimmermann. Durch den ständigen Austausch werden die Ereignisse am Hindukusch für die 69-Jährige plötzlich ganz konkret. „Mir läuft es manchmal wirklich kalt den Rücken runter“, verfolgt sie der abendliche Austausch mit ihrem einstigen Schützling gedanklich oft bis tief in die Nacht. „Plötzlich bin ich mittendrin.“

Karin Thoma-Zimmermann erlebt über einen ehemaligen Flüchtling aus Afghanistan das Leben in Kabul hautnah mit.
Karin Thoma-Zimmermann erlebt über einen ehemaligen Flüchtling aus Afghanistan das Leben in Kabul hautnah mit. © WP | Michael Kleinrensing

2015 war Ali als Flüchtling nach Deutschland gekommen. Als Kind des Krieges in Kabul groß geworden, suchte er in Europa eine Lebensperspektive in Freiheit und Frieden. Auf dem Landweg, so erzählt er am Telefon, schlug er sich seinerzeit über den Iran, die Türkei und Griechenland sowie die Balkanroute nach Österreich und weiter nach Deutschland durch. Als der junge Afghane mit dem beinah mongolisch anmutenden Äußeren 2016 erstmals in dem privat initiierten Deutschkurs der pensionierten Pädagogin Karin Thoma-Zimmermann in der Lioba-Kapelle am Spielbrink auftauchte, lebte er zusammen mit drei weiteren Flüchtlingen in einer Wohngemeinschaft in der Preußerstraße und hatte auch schon erste Sprachkurse hinter sich. „Er war sprachbegabt, wissbegierig, stets neugierig, an seiner neuen, deutschen Heimat interessiert und manchmal eben ein Korinthenkacker“, erinnert sich seine Sprachlehrerin, dass ihm obendrein eine Stelle in einer Kunststofffirma in Gevelsberg eine berufliche Perspektive eröffnete.

377 Afghanen leben zurzeit in Hagen

Angesichts der zunehmenden Flüchtlingsströme aus Afghanistan wurde der Stadt Hagen bisher lediglich eine sechsköpfige Familie zugewiesen, die bereits Ende Juli 2021 in die Bundesrepublik eingereist ist. Personen, die mit den letzten Evakuierungsflügen der internationalen Truppen aus Afghanistan gerettet wurden, sind bislang noch nicht in der Stadt angekommen.Grundsätzlich sah das Verteilungsverfahren zuletzt so aus, dass den afghanischen Ortskräften nach Prüfung einer Gefährdungsmeldung (individuelle Gefährdung der Ortskraft musste vorliegen) vom Bundesinnenministerium eine Aufnahmezusage (§ 22 Satz 2 Aufenthaltsgesetz) erteilt wurde.Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wiederum ist mit der organisatorischen Abwicklung des Verfahrens in Deutschland betraut. Zur Verfahrensbeschleunigung verzichtet das BAMF auf die Erstellung von Aufnahmebescheiden.Nach erfolgter Einreise im Visumverfahren erhalten die betreffenden Personen von der zuständigen Ausländerbehörde in Deutschland einen Aufenthaltstitel.Aktuell leben 377 afghanische Staatsangehörige in der Stadt, die in Hagen auch ihren Hauptwohnsitz haben. Ende des Jahres 2015 war es noch 264. Seitdem ist die Zahl in kleinen Schritten kontinuierlich gestiegen.

Doch es erreichten ihn auch die flehenden mütterlichen Rufe aus der Heimat, nach Kabul zurückzukehren – zu Eltern und Geschwistern. „Er war in einem totalen Zwiespalt, hat mit sich gerungen, wurde immer trauriger und stiller“, erzählt Karin Thoma-Zimmermann über das erdrückende Heimweh, dem der Familienmensch Ali letztlich nachgab. „Für ihn war das der richtige Weg.“ Seit vier Jahren ist der Afghane verheiratet, seine zierliche Frau hat ihm vor zweieinhalb Jahren einen Sohn sowie vor vier Wochen noch eine Tochter geschenkt. Mit seinen Brüdern betreibt er in Kabul einen florierenden Krämerladen und Gewürzhandel. „Bis vor vier Wochen war er glücklich“, erzählt seine einstige Hasper Tutorin über Alis neue Fröhlichkeit in seiner vertrauten Kultur und macht zugleich ein besorgtes Gesicht.

Stolz präsentiert der junge Familienvater in dieser Woche dem Reporter per Video-Chat sein Zuhause in einem modernen Kabuler Wohnhaus. Die Bilder aus dem großzügigen Appartement mit Einbauküche, vollausgestattetem Badezimmer, hochwertigen Steinböden, großzügigem Wohnraum mit wertigen Teppichen und Gardinen erinnert mit seiner Einrichtung sehr an einen westlichen Lebensstil. Auf der gleichen Etage wohnt seine Mutter, die Treppe führt hinauf aufs Dach in die pralle Kabuler Spätsommer-Sonne.

Hazara stehen im Fokus des IS

Doch vor die Tür geht die Familie gar nicht mehr: „Wir haben Essen, Trinken und Geld, aber um zu leben, braucht man Freiheit“, blickt Ali voller Ängste in die Zukunft. Gerne unternahm er mit seiner Familie Picknick-Touren in das Kabuler Umland. Doch zurzeit bleiben seine Frau und die Kinder stets zu Hause. Und auch Ali bewegt sich lediglich noch zu seinem Laden, zumal das öffentliche Leben vielerorts lahm liegt. Er gehört mit seinen Liebsten zur schiitischen Minderheit im Land, genauer gesagt zur Volksgruppe der Hazara. Diese wiederum wurden zuletzt Opfer eines Massakers der IS-Terroristen, die aktuell mit den sunnitisch geprägten Taliban um die Macht und Vorherrschaft in Afghanistan ringen. „Man kann zurzeit niemandem trauen“, skizziert er seine Furcht.

Gleichzeitig schätzt Ali die Sicherheitslage zurzeit als relativ stabil ein, weil mit dem Abzug der internationalen Truppen auch die Anschlagsgefahr gesunken sei. Allerdings weiß er noch nicht, wie das Leben vorzugsweise für seine Frau weitergehen kann: „Sie muss keine Burka tragen, da halten sich die Taliban zurück. Noch.“ Angesichts der geschlossenen Grenzen befürchtet er, dass die Lage sich da ganz plötzlich verschärfen könnte. Erst recht, wenn die Taliban internationale Anerkennung erfahren sollten.

Der Korinthenkacker bleibt

Karin Thoma-Zimmermann wird den Weg der afghanischen Familie weiter verfolgen. Sobald Ali das Haus verlässt, lässt er sein iPhone zurück, damit ihm diese so wichtige Verbindung zur Außenwelt an einem Check-Point oder bei anderen Unwägbarkeiten auf den Kabuler Straßen nicht verloren geht. Die regelmäßigen Chats mit seiner Hasper Vertrauten in englischer Sprache bewahren ihm einen Hauch jener Freiheit, die ihm von den Taliban gestohlen wurde. „You write denglish“, korrigiert er gerne augenzwinkernd seine ehemalige Deutsch-Lehrerin, die keine Anglistin ist. „Er ist eben doch ein Korinthenkacker“, registriert die Pensionärin beinah schon erleichtert, dass die neuen Herrscher in Afghanistan das offene und fröhliche Wesen von Ali noch nicht gebeugt haben. Zuletzt schrieb er seiner Karin zum Trost: „Keine Sorge – Gott ist gütig.“