Wehringhausen. Im Bundestag ist die Hagener Abgeordnete in zweifacher Hinsicht einzigartig. Als junge Mutter und Medizinethik-Vorkämpferin. Ein Gespräch.

Die Sonnencreme, mit der Katrin Helling-Plahr sich vor wenigen Minuten die Arme eingerieben hat, ist gerade eingezogen, als auf einer Sitzbank vor dem Bismarckturm das vielleicht wichtigste Wort in dieser Unterhaltung ihren Mund verlässt: „Selbstbestimmung“. Im 709 Abgeordnete großen Deutschen Bundestag hat die 35-jährige Hagenerin mit eben diesem Thema als Einzige ein Feld besetzt, an dem doch eigentlich das Schicksal Hunderttausender Menschen in diesem Land hängt. Dass Helling-Plahr es noch dazu schafft, als Mutter zweier Kinder (4 und 2) ein Leben zwischen Hagen und Berlin zu führen, bei dem für sie nichts auf der Strecke bleibt, macht die Hagener Abgeordnete in gewisser Weise doppelt einzigartig.

Anspruchsvoller Spagat zwischen Hagen, Berlin, Bundestagskindergarten und Politik

Vielleicht kann man das nur so sachlich ausdrücken, wenn man Rechtsanwältin ist. „Na ja, das leisten viele, viele Menschen in Deutschland.“ Mag sein, vielleicht stehen viele, viele Menschen dabei aber nicht im Dienste von Deutschland. Als Helling-Plahr 2017 über die Landesliste der FDP in den Bundestag einzog, da war ihr erstgeborener Sohn gerade neun Monate alt. Sie und ihr Mann Alexander Plahr, der ebenfalls als Rechtsanwalt tätig ist, entschieden sich für das Wagnis Berlin. Bundestagskindergarten, 55-Quadratmeter-Wohnung in Berlin-Mitte, regelmäßiges Pendeln, ein Spagat zwischen Politik, Juristerei und Familienleben. Ganz nebenbei noch beispielhaft dafür, dass eine Mutter Bundestagsabgeordnete werden kann und eine wachsende Familie (das zweite Kind wurde in der Legislaturperiode geboren) eben kein Ausschlusskriterium ist. Noch immer ist die Vielzahl der Abgeordneten männlich. 486, um genau zu sein.

Und dann kommt plötzlich René Röspel den Berg hinaufgelaufen

36 Grad. Es ist der heißeste Tag in Hagen in diesem Jahr. Zwei junge Damen in Badekleidung haben sich an den Hang vor dem Bismarckturm gelegt. Ab und an geht sowas wie Wind, den die Haut am liebsten einfangen würde. Dass der bärtige Herr, der strammen Schrittes den Hang hinaufspaziert, ein schwarzes T-Shirt trägt, muss auch aus seiner Sicht ein Fehlgriff gewesen sein.

Die Augen von Katrin Helling-Plahr werden etwas größer. „Ach“, stößt sie aus. Ja, „ach“ passt. Denn das ausgerechnet René Röspel, der mit Ablauf dieser Legislaturperiode 23 Jahre für die SPD im Bundestag gesessen haben wird, jetzt vorbeikommt, wirkt schon fast inszeniert – ist es aber nicht. „Ich wohne in der Buntebachstraße, ich mache hier meine tägliche Runde“, sagt er, bleibt nicht lange stehen und zieht weiter. Eine enge Beziehung zwischen Hagener Abgeordneten haben die beiden nicht. Man sieht sich im Plenum, hat einige Male die Zugfahrt geteilt, man schätzt sich.

Helling-Plahrs Herzensthemen liegen im medizinethischen Bereich.
Helling-Plahrs Herzensthemen liegen im medizinethischen Bereich. © WP | Michael Kleinrensing

Helling-Plahr: Ich will wieder in den Bundestag. Wenn nicht, ist es aber auch okay“

Hält sich der Umfragetrend für die FDP, dann wird es sehr wahrscheinlich sein, dass Helling-Plahr für eine weitere Legislaturperiode in den Bundestag einziehen wird. Sie steht auf Platz 15 der Landesliste, die bis dahin voraussichtlich ziehen wird. Katrin Helling-Plahr blickt mit Gelassenheit auf die Wahl. „Ich würde mich sehr freuen, ein weiteres Mal in den Bundestag einzuziehen. Ich weiß, was ich dort geleistet und angestoßen habe. Aber wenn es anders kommt, dann ist das auch okay.“

Menschen verdienen Wahlkampf und ein konkretes Angebot

Mit „okay“ meint die Juristin, dass sie dann in ihre Stelle als Rechtsanwältin zurückkehren wird, in der sie ebenso glücklich gewesen sei wie als Bundestagsabgeordnete. „Jetzt glaube ich aber, dass die Menschen angesichts der großen Themen, die anstehen, einen inhaltlich guten Wahlkampf verdient haben. Ich will dabei weiter mein Angebot machen.“

Ein Angebot machen, das kann ziemlich schnell als üblicher Politiker-Sprech interpretiert werden. In diesem Fall nicht. Denn Helling-Plahr ist in vier Jahren Bundestag nicht als Hinterbänklerin mitgeschwommen, sondern hat für ihre Themen die Bühne gesucht. Zur Legalisierung der Sterbehilfe hat sie einen eigenen Gesetzentwurf mit SPD-Mann Karl Lauterbach und Linken-Politikerin Petra Sitte initiiert. Sie will die nicht kommerzielle Leihmutterschaft in Deutschland legalisieren. Und hochschwanger sprach sie im Bundestag aus Sicht einer Mutter über Bluttests auf Trisomie 21 während der Schwangerschaft. Sie hat sich einen Namen in der Gesundheits- und Rechtspolitik sowie Medizin-Ethik gemacht, das Nachrichtenmagazin Spiegel hat ihr schon eine Geschichte gewidmet. Jener Spiegel, von dem sie sagt, dass sie ihn in Teenager-Jahren abonniert habe, obwohl sie eine Liberale sei.

Spahn will nun eine Enquete-Kommission für Medizinethik einrichten

Eine Enquete-Kommission ist in Sachen finale Entscheidungen kein besonders scharfes Schwert. Es sind vom Deutschen Bundestag eingesetzte überfraktionelle Arbeitsgruppen, die umfangreiche Sachkomplexe lösen sollen. Das Ziel ist, eine Position zu erarbeiten, zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen. Katrin Helling-Plahr hat durch ihre, und das ist positiv gemeint, inhaltliche Penetranz den Bundesgesundheitsminister Jens Spahn dazu bekommen, dass in der nächsten Legislaturperiode eine solche Kommission mit Blick auf medizinethische Fragen eröffnet werden soll.

Der Mensch soll entscheiden: Sterbehilfe, Organspende, Kinderwunsch

„Das selbstbestimmte Leben in allen Bereichen, bei der Kinderwunschbehandlung, bei der Sterbehilfe, bei der Organspende, ist etwas, dass ich stärken und ausbauen möchte. Ich glaube nicht, dass der Staat sagen sollte, wie in diesen Themenbereichen zu handeln ist, sondern dass er Rahmenbedingungen setzen muss, damit selbstbestimmtes Handeln möglich ist“, sagt sie.

Helling-Plahr setzte sich zuletzt dafür ein, ein Wechselmodell Wirklichkeit werden zu lassen. Dabei lebt das Kind im Falle einer Scheidung der Eltern abwechselnd bei Vater und Mutter. In Deutschland ist das Residenzmodell Standard. Die Kinder sind hauptsächlich bei der Mutter, der Vater hat Umgangszeiten. Vorgeburtliche Elternschaftszeitvertretungen müssten für Helling-Plahr ermöglicht werden. Genau wie die automatische Mitmutterschaft im Falle von Samenspenden.

Antrieb aus persönlich Betroffenheit? „Nein, weil es einfach wichtig ist“

Die Bretter, die Helling-Plahr dort bohrt, sind nicht nur dick, sondern auch alt. Vieles von dem wird weiter so praktiziert, weil es schon immer so gemacht wurde. „Für mich sind das aber ureigenste liberale Themen. Die Freiheit, darüber selbst entscheiden zu dürfen, dafür trete ich an“, sagt Helling-Plahr. Aus eigener Betroffenheit? Aus dazu passenden Wendepunkten in der Biografie? „Nein, weil es ganz einfach wichtig ist“, sagt sie.

Es zieht sich durch ihren politischen Werdegang, auf jene Themen zu setzen, die ihr wichtig erscheinen. Und sie findet mehr und mehr Mitstreiter in den politischen Fraktionen des Bundestages. Die Newcomerin im Plenum hat keine Hinterbänkler-Rolle inne. In ihrem Themenbereich ist sie ganz und gar führend unter den 709 Abgeordneten.

Okay, wir müssen die Bank vor dem Bismarckturm räumen, sonst sind mit uns gleich zwei Hagener Rostbratwürstchen durch. Vor der nun auslaufenden Legislaturperiode hatte die FDP bundesweit 10,7 Prozent geholt und hätte mit im Regierungsboot sitzen können. Doch die Verhandlungen über eine Jamaika-Koalition waren am 20. November 2017 abgebrochen worden. FDP-Bundesvorsitzender Christian Lindner sagte damals: „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“

Das Ziel: drittstärkste Kraft – und zurück an den Verhandlungstisch

Katrin Helling-Plahr denkt zurück. „Im Nachhinein wäre es sicher auch spannend gewesen, einer Regierungsfraktion anzugehören. Aber in der oppositionellen Rolle konnte man viele Themen ebenso gut vorantreiben. Ich wünsche mir, dass die FDP drittstärkste Kraft wird und damit ja wieder mit am Verhandlungstisch sitzen würde.“

Spaziergänge, dafür bleibt im Abgeordneten-Alltag meistens viel zu wenig Zeit. Auch für das Reisen. Die wenige freie Zeit gehört der Familie. Ein letzter Ausblick auf den Wahltag. „Ich stelle mich jetzt nicht hier hin und sage, dass wir den Wahlkreis Hagen gewinnen“, sagt sie und lacht. Dafür sei die Stadt viel zu lange eine sozialdemokratische Hochburg gewesen.

Eine Listen-Kandidatin kann auch aus dieser Position heraus gute Arbeit leisten

„Ich will“, sagt sie, „weiter mein Angebot unterbreiten. Die Menschen wissen jetzt, wofür ich stehe.“ Im E-Auto geht es zurück für sie. Diesmal nach Hause. Fleyerviertel statt Regierungsviertel. Wird die FDP wirklich drittstärkste Kraft und entspricht dem Umfrage-Trend, dann wird sie wohl wieder dabei sein. Als Listen-Kandidatin. Das man aus dieser Position des scheinbaren zweiten Siegers Politik machen kann, die national beachtet wird, hat Katrin Helling-Plahr bislang bewiesen. Selbstbestimmt. In ihrer eigenen Themenwahl.