Hagen. 1921 wurde der Caritasverband Hagen gegründet. Heute ist er einer der größten Arbeitgeber in der Stadt. Interview mit Professor Michel Boecker.

Der Hagener Caritasverband feiert in diesem Jahr sein 100-jähriges Jubiläum. Wir sprachen mit Michael Boecker aus Dahl, Professor für Sozialwissenschaften an der Universität in Dortmund, Vorsitzender des Verwaltungsrates der Caritas in Hagen.

Das Jubiläum haben Sie sich sicher anders vorgestellt, oder?

Ja, auf jeden Fall. Eigentlich hatten wir für jeden Monat unterschiedliche Aktionen geplant. Wir wollten zeigen, was Caritas vor Ort macht und wie Caritas im Sozialraum handelt. Doch wie sagte Jean-Paul Sartre einmal: „Es gibt vielleicht schönere Zeiten, aber diese ist unsere.“ Wir können uns halt nicht die Zeit aussuchen, in der wir leben. Wir können nur entscheiden, was wir daraus machen. In der letzten Woche hatten wir zumindest einen digitalen Auftakt, wozu sich viele Mitarbeitende und Bewohnerinnen und Bewohner unserer Einrichtungen und Maßnahmen zugeschaltet haben.

Der Corona-Virus hält uns im eisernen Griff. Hat die Krise uns auch gleicher gemacht?

Zu Beginn der Krise gab es nicht wenige, die das gehofft haben, da sie uns alle gleichermaßen betrifft. Dass dies nicht eingetreten ist, können wir schon jetzt sehen. Unsere Gesellschaft ist weder gerechter noch gleicher geworden. Das gilt nicht nur für die Bundesrepublik Deutschland.

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Hat Corona denn die Stärken und Schwächen unserer Gesellschaft offen gelegt?

Ja, häufig wird hier die Metapher des Brennglases genutzt. Die Pandemie hat gezeigt, dass es, wie so häufig in der Geschichte der Menschheit, diejenigen am schwersten trifft, die auch schon vor der Krise in prekären Verhältnissen leben mussten. Sie hat aber auch gezeigt, wozu Menschen und Gesellschaften fähig sind. Sie hat gezeigt, dass Solidarität, Nächstenliebe und Verantwortung für Andere und für sich selbst, nicht nur die Leitbilder unserer gesellschaftlichen Institutionen schmücken, sondern im Alltag gelebt und erlebt wurden. Dafür stehen wir auch mit der hundertjährigen Geschichte des Caritasverbands in Hagen.

Wofür steht die Caritas heute?

Der Auftrag der Caritas ist unbedingt verbunden mit dem christlichen Auftrag der Nächstenliebe. Jeder Mensch ein Abbild Gottes – egal – „…aus welch krummen Holz wir auch geschnitzt sind…“ (ist eigentlich von Nietzsche, der ja bekanntlich nicht viel mit Gott zu tun hatte). Caritas, das ist die Stärke im Sozialraum. Wir müssen dabei die Lebenswelt der Menschen, die unsere Hilfe brauchen, erfassen. Dann kann man sie besser verstehen und auf Augenhöhe agieren. Dazu wiederum braucht es gefestigte Verbandsstrukturen, so wie wir sie vorhalten. Ich glaube, dass wir gewappnet sind für die Herausforderungen der Zukunft. Diese wird digitaler und wesentlich stärker von internationalen Einflüssen geprägt sein. Es wird ein Kraftakt werden, da niemanden zurückzulassen. Und als einer der größten Arbeitgeber in Hagen haben wir natürlich auch eine große Verantwortung für unsere Mitarbeitenden und ihre Familien.

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Sind die Aufgaben der Caritas heute andere als bei ihrer Gründung 1921?

Die Herausforderungen sind andere. Der Auftrag ist seit hundert Jahren derselbe: Verwirklichung von Chancengleichheit, sozialer Gerechtigkeit und das unbedingte Eintreten für die Würde von Menschen. Menschen entscheiden nicht über ihre Herkunft oder in welche Verhältnisse sie hinein geboren werden. Menschen sind nicht immer „ihres Glückes Schmied“, wie uns die liberale Wirtschaftsdoktrin weismachen will. Menschen benötigen manchmal „Schicksalskorrektoren“, wie es Heribert Prantl, ehemaliger Mitherausgeber der Süddeutschen Zeitung, einmal formuliert hat.

Wie wichtig ist die freie Wohlfahrtspflege?

Die freie Wohlfahrtspflege ist das Rückgrat bei der Erbringung von sozialen Leistungen in der Bundesrepublik Deutschland. Sie etablierte sich als zivilgesellschaftlicher Gegenpol zu den staatlich dominierten öffentlichen Leistungsträgern. Nie wieder sollte der Staat so weitreichend wie im Nationalsozialismus in die Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger eindringen! Das ist bis heute die Stärke der freien Wohlfahrtspflege und die Stärke der Caritas. Wir kennen die Lebensrealität der Menschen vor Ort und das ist gut so. Nur so können wir zielgerichtet helfen.

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Besteht nicht die Gefahr, dass das wirtschaftliche Handeln den sozialen Aspekt bisweilen überlagert?

Dieses Spannungsfeld ist immens. Die Wohlfahrtspflege wurde in den 1990er Jahren in einen Wettbewerb gesetzt, Projekte und Dienstleistungen ausgeschrieben. Der Gedanke dahinter ist: Wettbewerb erzeugt gute Qualität und Leistung. Die Qualität und Wirkung sozialer Dienstleistungen sind aber nur sehr schwer vergleichbar und messbar. Deshalb entscheidet häufig der Preis und nicht die Qualität. Das fällt uns irgendwann wieder vor die Füße. Dann müssen wir uns den Vorwurf gefallen lassen, dass Wohlfahrtsverbände wie die Caritas nur Wirtschaftsunternehmen im sozialen Gewand sind. Wir aber müssen Anwalt der Menschen bleiben. Es ist aber auch klar: Wir können nur weiterexistieren, wenn die ökonomische Basis stimmt. Dass dies im Alltag häufig ein schmaler Grat ist, weiß ich nur zu gut aus eigener Erfahrung.

Sie haben gesagt, Inklusion sei die DNA der Caritas. Wie meinen Sie das?

Ich habe in den letzten Jahren viel über die Aktualität der Begriffe von Inklusion und Teilhabe nachgedacht – nicht nur in Bezug auf Menschen mit Behinderungen. Inklusion meint ja, dass jeder Mensch in einer Gesellschaft das Recht hat, auch anders zu sein – oder vielmehr: Es ist normal, dass Gesellschaft verschieden ist. Was ist schon normal? Ist das so wirklich neu für uns als Caritas? Ist nicht Inklusion vielmehr Selbstbild und Auftrag von Caritas – unsere DNA sozusagen. Wenn wir jeden Menschen als ein Abbild Gottes und in seiner Art einzigartig, ja manchmal auch eigensinnig oder verrückt (im wahrsten Sinne des Wortes) betrachten, dann ist die Forderung von Inklusion eine zutiefst christliche Überzeugung.

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Was ist eigentlich Ihre Aufgabe als Vorsitzender des Verwaltungsrates?

Zusammen mit dem Vorstand ist der Caritasrat für die strategische Ausrichtung des Verbandes zuständig und somit für alle langfristig zu verantwortenden finanziellen und inhaltlichen Fragestellungen. Das sind viele Sitzungen. Das höchste Organ des Caritasverbandes in Hagen ist die Delegiertenversammlung.