Hagen. Julia Schütz lehrt an der Fernuniversität in Hagen. Im Interview spricht sie über Corona und die Folgen für das Bildungssystem.

Julia Schütz (40) leitet seit September 2017 das Lehrgebiet Empirische Bildungsforschung an der Fernuniversität in Hagen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind empirische Forschungsmethoden, Professionstheorie, lebenslanges Lernen, soziale Anerkennung, Hochschulforschung und -entwicklung und (Komparative) Pädagogische Berufsgruppenforschung. Im Interview der Woche blickt sie auf die Corona-Situation und die Wichtigkeit der pädagogischen Arbeit gerade in diesen Zeiten.

Hat Corona eine Störung unseres Bildungssystems verursacht?

Julia Schütz: Corona hat nicht nur eine Störung unseres Bildungssystems verursacht, sondern viele Problemlagen unseres gesamtgesellschaftlichen Zusammenlebens ins Bewusstsein geholt. Mit Blick auf das Erziehungs- und Bildungssystem: Die Pandemie zeigt uns, wie elementar wichtig die pädagogische Arbeit für unsere Gesellschaft ist und auch, dass es im Bildungssystem eben nicht nur um reine Wissensvermittlung geht. Schule ist auch für die Entwicklung der Persönlichkeit und der Sicherung gesellschaftlicher Teilhabe – und dies sollte gerade in der Pandemie besonders betont werden – eine wichtige Sozialisationsinstanz und für die Strukturierung der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen bedeutsam.

Ist die Bildungsungleichheit durch Corona verstärkt worden?

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Ja, aber unser Erziehungs- und Bildungssystem ist im internationalen Vergleich auch nicht besonders gerecht. Noch immer entscheidet häufig die soziale Herkunft über den zukünftigen Bildungserfolg und somit auch die weiteren Berufschancen. Corona hat diese Bildungsungleichheit dahingehend verstärkt, dass Kinder oder Jugendliche, die bereits vor Corona keine optimalen Bedingungen zum Lernen hatten, noch schlechter am Lernen teilnehmen können. Das hat einerseits etwas mit der technischen Ausstattung und den räumlichen Gegebenheiten zu Hause zu tun, andererseits aber auch mit den familialen Ressourcen.

Können alle Eltern ihre Kinder im Lernen gleichermaßen unterstützen?

Ich denke nicht. Und abgesehen davon, können wir das auch gar nicht von ihnen erwarten.

Ist Homeschooling/Distanzunterricht sozial ungerecht?

Bildungsgerechtigkeit heißt nicht, dass alle gleich behandelt werden. Das wäre ungerecht. Weil eben nicht alle Kinder gleich sind und gleiche Bedingungen haben. Bildungsgerechtigkeit heißt, dass alle unabhängig ihrer Herkunft oder ihres Geschlechts, die gleichen Bildungschancen bekommen sollten. Im Distanzunterricht ist es eine besondere Herausforderung für die Lehrkräfte diese unterschiedlichen Bedingungen berücksichtigen zu können. In unserer aktuellen Studie zur „Professionalität und Bildungsgerechtigkeit in der Krise“ berichten uns die Lehrkräfte, dass es ihnen schwerer fällt auf die individuellen Bedürfnisse ihrer Schüler einzugehen, weil einige zum Beispiel einfach nicht mehr erreichbar sind. Darum: Es liegt an der konkreten Ausgestaltung des Distanzunterrichts, ob dieser sozial ungerecht oder gerecht ist. Ich denke, dass es von den Lehrkräften einfach immens viel abverlangt, einen sozial gerechten Distanzunterricht zu ermöglichen.

Hängt der Lernerfolg eines Schülers wirklich von der Bildung der Eltern ab?

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Zumindest zeigen diesen Zusammenhang zahlreiche Studien. Aber natürlich gibt es auch weitere Einflussfaktoren, die wirken und diesen Zusammenhang bestenfalls auflösen können. Beispielsweise inwieweit die pädagogischen Akteure es als ihre Aufgabe ansehen, für Chancengleichheit im Lernen zu sorgen.

Wie lässt sich Bildungsgleichheit eigentlich messen?

Es wird nicht Bildungsgleichheit gemessen, sondern in der Regel werden die Leistungen und formalen Bildungserfolge (also Abschlüsse) z.B. von Schüler oder auch Erwachsenen gemessen und diese werden dann mit weiteren Daten abgeglichen, z.B. mit dem sozioökonomischen Status oder einem Migrationshintergrund. Und in diesem Abgleich zeigt sich dann, dass Kinder z.B. aus einem Nicht-Akademiker-Haushalt eben häufiger nicht zur Universität gehen und daraus schließt man dann auf Bildungsungleichheit.

Lässt sich das Lerndefizit (so denn eines bei den Schülern entstanden ist) aufholen?

Wenn wir Schule als reine Wissensanstalt begreifen, in der es vornehmlich darum geht, einen Wissenskanon zu vermitteln, dann könnte man annehmen, dass die Lerndefizite, die die Krise verursacht hat, nicht aufholbar seien. Ich glaube, diese Fokussierung braucht es nicht. Die Kinder und Jugendlichen haben in der Krise deutlich andere Dinge gelernt, die sie im besten Fall zu gebildeten Menschen reifen lassen. Der Umgang mit digitalen Technologien ist das eine, das andere ist Solidarität und, das glaube ich ganz stark, politische Bildung. Selbst die Grundschulkinder wissen inzwischen, das politische Entscheidungen oft schwierige Meinungsabwägungen beinhalten. Und unseren Gesundheitsminister kennen sie auch.

Wie können die Schulen schnell und sicher wieder öffnen?

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Mit guten Konzepten für Distanz- und Wechselunterricht, Hygiene und Gesundheitsschutz, die es an vielen Stellen auch schon gibt, medienkompetenten Lehrkräften, einer digitalen Infrastruktur für Schulen, Schüler und Lehrkräfte. Und durch die Solidarität aller, die Infektionszahlen möglichst schnell runter zu bekommen.

Vor welchen Herausforderungen steht unser Bildungssystem?

Vor vielen. Neben der unbedingten Notwendigkeit Lehrkräfte digital kompetent auszubilden auch vor einem enormen Fachkräftemangel. Es fehlt fast überall am Personal, in Kitas, Schulen, in der außerschulischen Jugendarbeit.

Welche Lektionen lernen wir aus der Pandemie für die Zukunft?

Dass wir im Erziehungs- und Bildungssystem die Digitalisierung weitestgehend verschlafen haben und das pädagogische Berufsgruppen in allen Bereichen, also von der Kita bis zur Altenbildung, für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Teilhabe und das Wohlergehen absolut unersetzbar sind.