Altenhagen. Dass sie sich auf ADHS untersuchen lassen sollte, empfand Dilek Apaydin als Beleidigung. Sie sei kein „Zappelphilipp“. Die Diagnose war eindeutig.

Dilek Apaydin (30) spricht schnell, sehr schnell, die Worte sprudeln nur so aus ihr hervor, als würden sie sich jagen in ihrem Kopf, als würden sie dort um die Vorherrschaft ringen, als hätte sie tausende Gedanken auszudrücken. Und man erwartet in jedem Moment, dass sich die Worte überschlagen, dass die Sprecherin den Faden verliert, dass sie sich verirrt in dem Wirbel der Worte und Gedanken. „Sie können sich gleichzeitig unterhalten und schreiben“, sagt sie zu ihrem Gegenüber: „Das könnte ich nicht.“

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Und schon stürmen die Worte wieder los, Dilek Apaydin berichtet, dass sie seit 2010 an Depressionen leidet und dass ihr vor fünf Jahren erstmals ein Arzt gesagt hat, er würde sie gern auf ADHS untersuchen, aber dass sie sich weigerte, weil sie das als Beleidigung empfand, von wegen, sie sei doch kein Zappelphilipp, aber als sie vor drei Jahren den Bandscheibenvorfall hatte und Diazepam einnahm und statt der entspannenden Wirkung drei Tage am Stück nicht schlafen konnte und zu jener Zeit, um sich aufzuputschen, bis zu sechs Energy-Drinks am Tag zu sich nahm und sich dennoch immer müde fühlte, erinnerte sie sich der Worte des Arztes und ging wieder hin: „Die Diagnose war eindeutig. ADHS.“

Keine Arbeit zu Ende gebracht

Seitdem nimmt sie Medikamente und ihre Lebensqualität hat sich verbessert, sie konnte ja nicht einmal abends in Ruhe vor dem Fernseher einen Film gucken, weil sie das zu sehr anstrengte, sie guckte dauernd auf ihr Smartphone und scrollte rauf und runter, sie brachte keine Arbeit im Haus zu Ende, mitten im Bettenmachen fing sie an zu spülen und hatte das Geschirr noch nicht abgewaschen, als sie auch schon den Staubsauger in der Hand führte. „Ich tat die ganze Zeit über irgendetwas, aber es veränderte sich nichts“, sagt sie: „Nichts in meinem Leben und nichts in meiner häuslichen Umgebung.“

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Und wieder beginnt sie zu erzählen, schnell, schnell, sie bändigt die Worte, sie ist intelligent, obwohl sie nicht einmal einen Schulabschluss besitzt, weil sie es einfach nicht schaffte sich zu konzentrieren, der Vater sie für faul hielt, aber er wusste ja auch nicht, wie das war zwischen all den Kindern, Stimmen, Bildern und Berührungen, wie ihr schwindelig wurde angesichts dieser gigantischen Reizüberflutung, die ihr Gehirn vor eine unlösbare Herausforderung stellte. „Ich fühlte mich unwirklich. Ich war zwar da, und ich wusste das auch, aber alles rauschte an mir vorbei. Es hat mich verrückt gemacht.“

Mit Medikamenten geht es besser

Dilek Apaydin kann nicht Auto fahren, sie erschrickt, wie soll sie denn gleichzeitig Gas geben, lenken und die Straße im Auge behalten, sie kann nicht nachts neben ihren Kindern im Bett schlafen, die Bewegungen und der Atem der Kleinen rauben ihr den Schlaf, sie zieht sich aufs Sofa zurück, sie fühlt sich am wohlsten mit Ohropax in einem stockdunklen Raum: „Dann finde ich manchmal Ruhe.“

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Mit den Medikamenten geht es besser, Dilek Apaydin hat gelernt, Prioritäten zu setzen, sie schreibt sich Merkzettel und erledigt dann eine Aufgabe nach der anderen. Sie kann sich besser konzentrieren, besser orientieren. Zuerst kocht sie den Kindern das Mittagessen, dann macht sie die Wäsche, dann putzt sie die Wohnung. Sie will nicht mehr alles auf einmal machen oder alles von sich wegschieben. Aber sie geht nicht gerne aus, nicht auf Partys und schon gar nicht in eine Diskothek. Das hielte sie nicht aus.

Die Leute haben sie nicht ernst genommen, als sie ihnen von der Diagnose erzählte, so wie sie selbst früher nicht ernst genommen hatte, was der Arzt andeutete. Ihr Vater ist längst geläutert, er unterstützt sie und sagt, sie sei schon immer anders gewesen als die anderen. Nein, sie sei kein Zappelphilipp, sagt Dilek Apaydin, dieser Begriff sei verharmlosend, ADHS sei etwas Schlimmes, Unbezwingbares, das das Leben zerstören könne.

Sie würde so gern Altenpflegerin werden, aber sie hat Angst, in der Ausbildung zu versagen. Wenn die Wirkung der Medikamente nachlässt, schleicht die Angst herbei. Dann fühle sie sich, als hätte sie Matsche im Kopf, sagt Dilek Apaydin.