Hagen. Lucia, die 6-jährige Tochter von Zsuzsanna Hum, leidet an Narkolepsie. Ihr Schlaf-Wach-Rhythmus ist gestört. Hinzu kommen kataplektische Anfälle.
Das Schlimmste für eine Mutter ist es, wenn ihrem Kind etwas zustößt. Wenn es krank ist, sehr krank.
Zsuzsanna Hum kann nicht erklären, warum Lucia gesund geboren wurde und gesund aufwuchs und sich dann in kurzer Zeit so radikal veränderte. Manchmal fällt der Kopf ihrer Tochter haltlos nach vorn auf den Tisch oder in die Suppe, und der Mutter gibt es einen Stich ins Herz. Sie will alles wissen über die tückische Krankheit, nein: diese tückischen Krankheiten, das Trio aus Gehirnentzündung, Autismus und Narkolepsie.
Sie hat so viel gelesen über die ebenso seltenen wie seltsamen Schlafstörungen, dass sie selbst eine wissenschaftliche Abhandlung darüber schreiben könnte, sie hat ihren Beruf als Sozialpädagogin an einem Gymnasium aufgegeben, um ganz für Lucia (6) da sein zu können, sie hat ihrem Kind viele Therapien zugemutet, weil sie sich nicht nachlassen sagen will – nein: weil sie nicht vor den Spiegel treten will in dem Wissen, nicht jede erdenkliche Hilfe angenommen und nicht jede erdenkliche Therapie ausprobiert zu haben. „Ich will alles wissen über ihr Leiden. Ich will wissen, wie es mit meiner Tochter weitergeht.“
Den Glauben an Gott verloren
Aber niemand kann Zsuzsanna Hum sagen, wie Lucias Zukunftsaussichten sind. Die Kleine ist ja ein Extremfall. „Ich habe gedacht, mein Kind stirbt mir weg“, sagt Zsuzsanna Hum. So elend ging es dem Kind, dass die Mutter ihren Glauben an Gott verlor, weil sie einfach nicht glauben konnte, dass Gott so etwas zulässt, dass er ein Kind, ein unschuldiges Kind, so leiden lässt. Das Kind, das Lucia einst war, lebe noch immer in ihr, sagt Zsuzsanna Hum.
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Aber sie musste ihr Kind neu lernen. Lucia ist nicht mehr der Mensch, den die Mutter kannte. Sie liebt sie deshalb vielleicht noch mehr, sie ist ja jede Minute an ihrer Seite. Vor drei Jahren trat das erste Anzeichen einer Krankheit auf, es war ein autistischer Wutanfall. Es war am 1. Juli 2017, wie sollte Zsuzsanna Hum dieses Datum je vergessen?
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Sie war auf einem Dorffest und verkaufte Marmelade, als Lucia ohne offenbaren Grund zu schreien und zu toben begann. „Sie war vollkommen außer sich“, erinnert sich die Mutter: „Es war der totale Overload.“ Zsuzsanna Hum musste ihren Vater anrufen, der seine Enkelin unter beträchtlicher Kraftanstrengung ins Auto verfrachtete, in dem das Mädchen wie irre gegen die Scheiben schlug. Eine Stunde lang dauerte dieser Tobsuchtsanfall, dann war alles wieder gut.
Zwölf Tage später sackte Lucia erstmals zusammen.
Einhörner und Prinzessinnen
Die Mutter sagt, dass ihr Kind oft Halluzinationen hat. Lucia spreche mit Figuren, die sie aus Märchen kennt, mit Einhörnern, Prinzessinnen und den Tierchen aus den Überraschungseiern. Ihre Augen sind geschlossen, ihre Hände zittern leicht, aber sie empfindet die fremden Wesen nicht als beängstigend. Erst wenn sie ihre Mutter spürt, weiß sie, dass da noch diese andere, reale Welt ist. „Ich bin für sie der Mensch, der den Bezug zur Wirklichkeit aufrecht erhält“, sagt Zsuzsanna Hum. Sie hält die Haustür geschlossen, weil sie befürchtet, dass Lucia in diesem merkwürdigen Schlaf-Wachzustand schlafwandeln und davonlaufen könnte.
Kataplektische Anfälle
Lucia ist ein einsamer Mensch. Die Wutausbrüche und die kataplektischen Anfälle machen es ihr schwer, Freundinnen zu finden. Und auch ihre Mutter pflegt nur noch Kontakte zu Familien, die ebenfalls ein krankes Kind haben. Es nagt und reißt an ihr, dass sie ihrem Kind nicht helfen kann. „Autistische Menschen leiden darunter, dass sie einsam sind, sie sehnen sich nach Geselligkeit.“
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Lucia hat Angst vor einem Anfall in aller Öffentlichkeit, weil die Kataplexie ihr Gesicht zu einer Grimasse verzerrt, ihre Zunge aus dem Mund heraushängt und sie das alles, obwohl sie nichts dagegen tun kann, wahrnimmt. Auch die Reaktionen der Umstehenden. „Sie fragt sich, ob die Menschen denken, dass sie blöde ist.“
Lachen kann gefährlich sein
Wenn Zsuzsanna Hum ein Kind lachen hört, fährt sie zusammen. Denn für ihr Kind kann Lachen gefährlich sein, es ruft einen Anfall hervor und lässt sie nach vorne stürzen. Erwachsene, die betroffen sind, lachen ungern und meiden Situationen, in denen es lustig zugeht. Die autoimmune Gehirnentzündung könnte hinter all den Äußerungen des Körpers des Kindes stecken. Oder die Windpockeninfektion vom Dezember 2016 und die kurz darauf folgende Viruserkrankung. „Das war zuviel für Lucias Körper“, überlegt die Mutter: „Seitdem hat sie viel durchgemacht.“
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Lucia ist chronisch müde, vor allem tagsüber übermäßig schläfrig. In der Schule schläft sie alle zwei Stunden ein. Jederzeit kann sie eine Einschlafattacke überfallen, aber sie fühlt sich nie erholt vom Schlaf. Es gibt Medikamente mit einer begrenzten Wirkung gegen den gestörten Wach-Schlafrhythmus, aber die machen das Kind aggressiv, da ist es der Mutter lieber, es schläft.
Zu Gott zurückgefunden
Ihr Vater sei fest im Glauben, sagt Zsuzsanna Hum. Er habe sie ermutigt, Gott nicht aufzugeben. „Das Kind geht nach dir“, habe er ihr gesagt. Wenn sie selbst positiv eingestellt sei, dann übertrage sich das auf Lucia. Aber das ist schwer, sehr schwer. Sie scheue nicht davor zurück, um Hilfe zu bitten, sagt Zsuzsanna Hum, dass die Mitmenschen zur Entschlüsselung des Verhaltens des Mädchens beitragen könnten, doch manchmal sei sie so ausgelaugt und könnte durchdrehen, und dann hat sie ein 500 Seiten dickes Buch über Neurologie gelesen und sagt, dass sie schon angesprochen worden sei, wenn Lucia einen kataplektischen Anfall hatte, wie ungezogen das Kind doch sei, einfach die Zunge rauszustrecken, und dass sie es den Leuten dann zu erklären versuche und man ihr nicht glaube. „Dann entschuldige ich mich.“
Lucia sprach so schönes Ungarisch, sie sang deutsche Lieder und sagte Gedichte auf. Das Kind, das Lucia einst war, lebe noch immer in ihr, sagt Zsuzsanna Hum.