Hagen. . Befangenheitsantrag, Menschenrechtskonvention und eine lange Anklage: So war der erste Tag im Hagener Spielhallen-Prozess. Es geht um Millionen.
Es war eine Razzia mit außergewöhnlichen Dimensionen. Und es wird nun ein Mammut-Prozess mit ebenso außergewöhnlichen Dimensionen: 58 Verhandlungstage sind bislang am Landgericht Hagen angesetzt, um die Vorwürfe gegen drei Hagener (darunter ein Brüder-Paar) zu klären, die in einem Geflecht von Spielhallen in ganz Nordrhein-Westfalen binnen zehn Jahren Steuern und Abgaben in Höhe von stolzen 48,4 Millionen Euro hinterzogen haben sollen. Und zwar mit einer speziellen Software, die die Umsatzausdrucke der Spielgeräte manipuliert haben soll.
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Bereits der Prozessauftakt gestaltete sich zäh: Schon wenige Minuten nach Beginn wurde die Hauptverhandlung wieder unterbrochen. Der Grund: Der Vorsitzende Richter Andreas Behrens hatte Verteidiger Prof. Ullrich Sommer, der den Hauptangeklagten vertritt, nicht einen Befangenheitsantrag stellen lassen.
Verteidiger sieht „Rechtsfehler“ des Gerichts
Der Richter wollte dies erst zu einem späteren Zeitpunkt ermöglichen und zunächst die persönlichen Verhältnisse der drei Angeklagten erörtern lassen. Nach Ansicht von Verteidiger Sommer ein Rechtsfehler, den er schon gleich zu Beginn des Prozesses mit deutlichen Worten kommentierte: „Sie können sich nicht über das Recht stellen.“
Die Richter aber entschieden: Der Befangenheitsantrag konnte erst später gestellt werden. Doch es ging weiter mit juristischen Formalien. Die Verteidigung des 43-Jährigen rügte die Besetzung der Wirtschaftsstrafkammer: Eine Schöffin sei nicht die richtige.
Anklageschrift umfasst 99 Seiten
Um 10.50 Uhr wurde dann die Anklage verlesen. Dies war für die Staatsanwaltschaft eine nicht leichte Aufgabe: 99 Seiten stark ist die Anklageschrift, 36 Seiten davon - gespickt mit einer Vielzahl von Zahlen - muss sie vortragen.Unterm Strich fast eineinhalb Stunden dauerte die Verlesung mit Unterbrechungen.
Festplatte mit 49 Gigabyte Daten
Von der Verteidigerseite gab es im Anschluss mehrere Erklärungen und Anträge. Der Tenor dabei: Die Ermittlungen und das Verfahren entspreche nicht den rechtsstaatlichen Prinzipien. Das einzige Beweismittel sei das Netbook, das bei dem 50-jährigen Angeklagten gefunden worden war. Es sei aber völlig unklar, was seit der Sicherstellung im Jahr 2016 damit geschehen sei und ob Daten manipuliert worden seien. Den Verteidigern sei eine Kopie der Originaldaten erst am vergangenen Freitag auf einer Festplatte mit 49 Gigabyte Daten übergeben worden - es sei unmöglich, deren Beweiskraft in so kurzer Zeit zu bewerten.
Sehr kritisch wurde von den Verteidigern auch noch einmal die Rolle eines Ermittlers beleuchtet, der persönliche Kontakte zur Familie der beiden Brüder gehabt haben soll. Der sei quasi als verdeckter Ermittler tätig gewesen, ohne dass es dafür irgendeine Ermächtigung gegeben habe. Trotzdem stütze sich die Anklage auch auf desen Arbeit.
Und zudem sei einer der Richter befangen, weil er sich unter anderem im Vorfeld des Prozesses mit der Staatsanwältin abgesprochen habe.
Aufhebung des Haftbefehls gefordert
Zwei Verteidiger forderten eine Aussetzung des Verfahrens, sprich: Sie wollen den Prozess vorerst platzen lassen, um mehr Zeit zu haben, um sich auf die Verteidigung vorbereiten zu können. Für Anwalt Ullrich Sommer, Verteidiger des in U-Haft sitzenden 43-Jährigen, war damit klar: Der Haftbefehl gegen seinen Mandanten müsse mit Verweis auf die Europäische Menschenrechtskonvention aufgehoben und der Angeklagte entschädigt werden.
Doch entschieden wurde über all diese Anträge noch nicht. Dazu, so die Wirtschaftsstrafkammer, brauche man Zeit. Gegen 15.45 Uhr wurde die Verhandlung vertagt. Der geplante Prozesstag am Freitag fällt aus, erst am 11. Juni geht es weiter. Und so lange bleibt der 43-Jährige auf jeden Fall noch in Haft.
Prozessstart mit Verspätung
Gegen 9.50 Uhr war der Prozess mit einigen Minuten Verspätung gestartet. Der 43-jähriger Hauptangeklagte wurde aus der Untersuchungshaft vorgeführt. Er und sein Bruder sowie ein weiterer Mitangeklagter werden von insgesamt sieben Verteidigern vertreten.
Familienmitglieder verfolgen den Prozessauftakt
Im Zuschauerraum verfolgen mehrere Familienmitglieder des angeklagten Bruder-Paares den Prozess. Begleitet wir dieser auch von einem großen Medienaufkommen. Verschiedene Fernseh- und Radiostationen waren vor Ort.
Kommt es am Ende zu einer Verurteilung, dann drohen den Angeklagten bis zu zehn Jahre Haft. Und schon jetzt zeichnet sich ab, dass das Verfahren eine juristische Schlacht werden wird. Der Anwalt des 43-jährigen Hauptangeklagten, der seit mehr als einem halben Jahr in Untersuchungshaft sitzt, hält zudem die gesamte Beweisführung der Staatsanwaltschaft für falsch und erhebt schwere Vorwürfe. Unter anderem soll illegal ein V-Mann eingeschleust worden sein.
Tonnen von Münzgeld werden beschlagnahmt
Die Razzia hatte Ende September 2018 spektakuläre Bilder produziert: Luxus-Fahrzeuge der Angeklagten wurden am Kran abtransportiert – inzwischen werden sie vom Finanzamt versteigert. Zudem wurden große Mengen an Bargeld beschlagnahmt, darunter mehrere Tonnen Münzgeld. In ganz Nordrhein-Westfalen wurden Spielhallen mit einem Großaufgebot von Polizei, Staatsanwaltschaft und Zoll durchsucht. Sie sollen zu einem Firmengeflecht gehören, das einer Familie aus Hagen zugeordnet wird, die türkisch-kurdischen Ursprungs ist und es binnen weniger Jahre nach der Flucht aus der ursprünglichen Heimat zu großem Reichtum gebracht haben soll.
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Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft allerdings mindestens zum Teil mit illegalen Mitteln. Den drei Angeklagten (43, 39 und 50 Jahre) wird vorgeworfen, in den Jahren 2008 bis 2018 in den von ihnen betriebenen Spielhallen die technischen Aufzeichnungen von Geldspielgeräten manipuliert zu haben und die mit diesen Geräten erzielten Einnahmen teilweise nicht versteuert haben. Mit dem Gesamtschaden von insgesamt etwa 48,4 Millionen Euro entstanden sein.
743 einzelne Straftaten sind angeklagt
Die einzelnen Vorwürfe: Dem in Untersuchungshaft sitzenden Hauptangeklagten (43) werden 743 einzelne Straftaten ( gewerbsmäßige Fälschung technischer Aufzeichnungen in 91 Fällen, Steuerhinterziehung in 193 Fällen – hiervon in 135 Fällen in großem Ausmaß – und Abgabenhinterziehung in 459 Fällen) vorgeworfen.
Tatorte, Vorwürfe, Strafmaß: Fakten zum Prozess
Die Tatorte: Im Fokus der Ermittler stehen Spielhallen in Hagen, Datteln, Duisburg, Dortmund, Hattingen, Hilden, Holzwickede, Langenfeld, Meinerzhagen und Menden, die alle von der Familie betrieben werden oder wurden.
Die Struktur: Der 43-jährige Hauptangeklagte soll darüber hinaus eine Verwaltungsgesellschaft in Hagen führen, die seit 2015 alle von ihm geführten Unternehmen gelenkt und Buchhaltungsaufgaben für die Unternehmen der beiden Mitangeklagten übernommen haben soll. Außerdem soll der 43-Jährige faktisch auch die Geschicke der formell von seinem jüngeren Bruder (39) geleiteten Unternehmen mitbestimmt haben.
Der Vorwurf: In den betriebenen Spielhallen sollen die Angeklagten jeweils die von den Geldspielgeräten automatisiert angefertigten Aufzeichnungen mittels einer Spezial-Software manipuliert haben, um geringere Einnahmen vorzuspiegeln. Diese manipulierten Daten sollen sie zum Gegenstand ihrer Buchführungen und Steuererklärungen gemacht haben.
Der Tatzeitraum: Vom 31. Dezember 2008 bis zum 18. September 2018 sollen die Angeklagten Umsatzsteuern, Kapitalertragsteuern, Einkommensteuern und Gewerbesteuern sowie kommunale Abgaben in Form von Vergnügungssteuern hinterzogen haben. Der Gesamtschaden liegt laut Anklage bei 48,4 Millionen Euro.
Das mögliche Strafmaß: Für die schwersten angeklagten Delikte, die Steuerhinterziehung mit einem Steuerschaden großen Ausmaßes und die gewerbsmäßige Fälschung technischer Aufzeichnungen, sieht das Gesetz im Regelfall eine Freiheitsstrafe von jeweils 6 Monaten bis
zu 10 Jahren vor.
Die Termine: Für das Verfahren sind zunächst 58 Hauptverhandlungstage bis zum 30. Januar 2020 vorgesehen.
Den Brüdern gemeinsam werden weitere 184 Straftaten (gewerbsmäßige Fälschung technischer Aufzeichnungen in 53 Fällen, Steuerhinterziehung in 38 Fällen – hiervon in 23 Fällen in großem Ausmaß – und Abgabenhinterziehung in 93 Fällen) vorgeworfen. Aufgrund dieser Taten soll ein Steuer- und Abgabenschaden von etwa 43,5 Millionen Euro entstanden sein.
Dem 39-jährigen Angeklagten, Bruder des 43-Jährigen, werden darüber hinaus weitere 79 Straftaten (die gewerbsmäßige Fälschung technischer Aufzeichnungen in 12 Fällen, Steuerhinterziehung in 14 Fällen – hiervon in 13 Fällen in großem Ausmaß – und Abgabenhinterziehung in 53 Fällen) mit einem Gesamtschaden von etwa 3,3 Millionen Euro vorgeworfen.
Dem 50-jährigen Angeklagten schließlich werden 272 Straftaten (gewerbsmäßige Fälschung technischer Aufzeichnungen in 59 Fällen, Steuerhinterziehung in 56 Fällen – hiervon in 11 Fällen in großem Ausmaß – und Abgabenhinterziehung in 157 Fällen) mit einem Gesamtschaden von etwa 1,6 Millionen Euro vorgeworfen.
Der 39 Jahre und der 50 Jahre alte Angeklagte sind aufgrund einer erheblichen Kautionszahlung derzeit auf freiem Fuß, der 43-jährige Hauptangeklagte sitzt in Untersuchungshaft.