Hagen. 24 Stunden lang hat ein Redakteur den Rettungsdienst in Hagen begleitet: Von Dramen im Alter bis zu betrunkenen 14-Jährigen reichen die Einsätze.
- WP-Redakteur Michael Koch hat eine 24-Stunden-Rettungsdienstschicht mitgemacht
- Tagsüber ist die alternde Gesellschaft häufig Einsatzgrund, nachts der Alkohol
- Zwölf Einsätze, die zeigen, wie anstrengend der Beruf ist
Aus Sicht der Rettungsdienst-Profis ist es ein extrem ruhiger Samstag: 70 Rettungswagen-Einsätze binnen 24 Stunden im gesamten Stadtgebiet werden am Ende gezählt. Die subjektive Sicht des bei Schichtende am Sonntagmorgen um 7 Uhr ziemlich übermüdeten Reporters ist eine durchaus andere. Zwölf der 70 Einsätze hat die WESTFALENPOST in einer 24-Stunden-Schicht begleiten dürfen.
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Die Klassiker wie Herzinfarkt, Schlaganfall oder Verkehrsunfall gibt es in dieser Schicht für den Rettungswagen 3 (RTW), der an der Feuerwache Mitte in Wehringhausen stationiert ist, zwar nicht. Aber es gibt tiefe Einblicke in die harte, körperlich wie mental fordernde Arbeit des Rettungsdienstpersonals. Und auch tiefe Einblicke in den Hagener Alltag: Tagsüber macht sich die alternde Gesellschaft bemerkbar, nachts der Alkohol. Ein Protokoll.
Einsatz 1: Hilflose Person hinter Tür
Der Dienst hat soeben begonnen, da klingelt zum ersten mal der Piepser von Thimo Lückmann und Dennis Larisch, die in diesen 24 Stunden den RTW 3 besetzen. Eine alte Frau wird hilflos hinter ihrer Wohnungstür in der Innenstadt vermutet. Dem Pflegedienst hat sie nicht geöffnet, auf alles Klingeln und Rufen gibt es keine Reaktionen. Die Feuerwehr rückt aus, um die Tür zu öffnen, die Polizei ist angerückt ebenso wie das Notarzteinsatzfahrzeug mit dem Mediziner vom Allgemeinen Krankenhaus. Und unser RTW 3. Gerade als die Feuerwehr die Tür gewaltsam öffnen will, öffnet die alte Dame doch noch überraschend die Tür. Sie hatte trotz des Lärms vorher nichts gehört. Erleichterung auch bei den Rettungskräften, alle können abziehen.
Einsatz 2: Krebspatient braucht Hilfe
Nur eine kurze Verschnaufpause für den RTW 3, dann geht es mit Blaulicht und Martinshorn in die südliche Innenstadt: Ein Mann, Mitte 80, lebt hier mit seiner ebenfalls betagten Frau. Er ist schwer krebskrank, bekommt eine Chemotherapie. Dies setzt ihm offensichtlich zu, im Bad bekommt er einen Schwächeanfall. Die Angehörigen, die hinzu gekommen sind, sind mit der Situation heillos überfordert.
Angriffe auf Rettungsdienst-Mitarbeiter häufen sich
Mitarbeiter von Rettungsdiensten sehen sich häufig Angriffen ausgesetzt. Gewerkschaften und Verbände sind in Sorge.
Laut einer Studie der Ruhr-Universität Bochum haben 98 Prozent der Rettungskräfte in Nordrhen-Westfalen schon einmal Beleidigungen und Drohgebärden im Einsatz erlebt. Schlimmer noch: Mehr als die Hälfte ist nach eigenen Angaben schon einmal im Dienst angegriffen worden. Oft standen die Angreifer unter Alkohol-Einfluss.
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Der Senior will erst nicht ins Krankenhaus, sieht dann aber schnell ein, dass das die bessere Lösung ist. Das RTW-Team und der Reporter heben den Mann vorsichtig aus der Badewanne. Im Rettungswagen fahren Thimo Lückmann und Dennis Larisch routiniert ihr Programm: Ein EKG wird geschrieben, Blutdruck und Sauerstoffgehalt werden gemessen und möglichst viel zur bisherigen Krankengeschichte erfasst. Der Blutdruck ist niedrig, mit Blaulicht bringen sie ihn ins AKH.
Einsatz 3: Schwächeanfall in der Eisdiele
Kurz darauf der nächste Einsatz, diesmal in einer Eisdiele. Eine Frau um die 80 Jahre hat einen Schwächeanfall und Durchfall erlitten. Sind ihre Medikamente die Ursache? Das muss abgeklärt werden. Zur Untersuchung wird sie ins evangelische Krankenhaus nach Haspe gebracht.
Einsatz 4: Zuhause geht es nicht mehr
Und auch der nächste Einsatz führt zu einer alten Frau. Sie war bereits im Pflegeheim, wollte aber unbedingt wieder nach Hause in ihre Wohnung. Doch es wird auch ihr sehr schnell klar: Das funktioniert nicht, auch wenn der mobile Pflegedienst kommt. Die Angehörigen, die jetzt da sind, wohnen eigentlich mehr als 150 Kilometer entfernt. Weder beim Hausarzt noch beim hausärztlichen Notfalldienst bekommen sie die aus ihrer Sicht richtige Hilfe. Wer kommt, ist nun der Rettungsdienst.
Das Team des RTW 3 checkt, ob die geriatrische Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses noch Kapazitäten frei hat. Es funktioniert: Die alte Frau wird vorsichtig mit einem Rettungstuch aus der engen Wohnung bis zur fahrbaren Trage gehoben und ins Allgemeine Krankenhaus am Buschey gebracht.
Einsatz 5: Krampfanfall im Altenheim
Der frühe Nachmittag ist zunächst ruhig, dann wird wieder deutlich, wie groß die Herausforderungen einer alternden Gesellschaft sind. Die Anfahrt zu dem Notfall ist denkbar kurz: Im DRK-Altenheim an der Lange Straße hat eine Seniorin einen heftigen Krampfanfall erlitten. Der Notarzt und die Rettungsassistenten versorgen sie, alle Werte werden vor Ort kontrolliert, ein Zugang für die Infusion gelegt, Medikamente verabreicht. Dann geht es in das Johannes-Hospital nach Boele, das eine neurologische Abteilung hat.
Für Feuerwehrmann Thimo Lückmann gehört das zum Alltag. Aber so richtig Alltag kann es nie werden: „Das kann schon belastend sein, wenn Du im Rettungsdienst immer wieder mit diesen Problemen des Alters konfrontiert wirst. Und auch mitbekommst, wie allein und hilflos viele sind.“
Einsatz 6: Fußball vor den Kopf bekommen
Nach 18 Uhr ändern sich dann wie bestellt die Einsätze: Jetzt stehen nicht die Senioren im Mittelpunkt, es gibt vielmehr ein buntes Sammelsurium von echten medizinischen Notfällen und Einsätzen, die man wohl eher als gesellschaftliche Reparaturarbeiten bezeichnen muss.
Feuerwehrmann und Rettungsassistent
Jeder Feuerwehrmann hat sowohl die brandschutztechnische Ausbildung als auch die Ausbildung zum Rettungsassistenten oder aber die des neu eingeführten Berufsbildes des Notfallsanitäters. Die Positionen wechseln in den unterschiedlichen Schichten zwischen Rettungsdienst und Brandschutz.
Voraussetzung, um Feuerwehrmann zu werden, ist entweder eine abgeschlossene handwerkliche Berufsausbildung oder – ganz neu – die Ausbildung zum Notfallsanitäter.
Am Beispiel von Thimo Lückmann aus dem Rettungswagen-Team wird das deutlich: Der 30-Jährige aus Breckerfeld ist seit dem Jahr 2009 bei der Feuerwehr Hagen. Er ist gelernter Straßenwärter, hat beim Landesbetrieb Straßen.NRW seine Ausbildung absolviert.
Der verheiratete Vater eines Sohnes hat danach bei der Berufsfeuerwehr die Ausbildung zum Brandmeister und Rettungsassistenten absolviert. Der gebürtige Schalksmühler ist noch immer auch bei der dortigen Freiwilligen Feuerwehr aktiv.
Ganz klar ein Fall fürs Krankenhaus ist aber der 15-jährige Junge, der bei einem Fußballturnier am Ischeland einen Ball mit voller Wucht ins Gesicht bekommen hat. Er ist sichtlich benommen. Mit Verdacht auf Gehirnerschütterung kommt er ins AKH.
Einsatz 7: Zweijährige mit Ausschlag und Fieber
Die Pause auf der Wache ist nur kurz, dann geht es in die Innenstadt: Eine Zweijährige hat Fieber, Ausschlag am ganzen Körper und schreit heftig. Auch der Teddy, den ihr Dennis Larisch im Rettungswagen schenkt, kann sie nicht gleich beruhigen. Sie ist ein Fall für die Kinderklinik. Sind es am Ende Masern?
Das hätte auch Auswirkungen auf das Team: Der RTW müsste desinfiziert werden, das Team (inklusive Reporter) müsste zur Feuerwehr-Zentrale nach Hohenlimburg, sich komplett neu einkleiden und duschen. So fordern es die strengen Vorschriften. Die Erleichterung ist groß, als der Kinderarzt in der Kinderklinik am AKH Entwarnung gibt: keine Masern.
Einsatz 8: Wohnungsbrand-Alarm
Die Entwarnung kommt gerade recht, denn sofort gibt es den nächsten Einsatz: Der gesamte Feuerwehrlöschzug der Wache-Mitte rückt aus, denn aus einer Wohnung an der Rembergstraße dringt dichter Qualm.
Der Rettungswagen rückt in diesen Fällen immer mit aus, um mögliche Verletzte schnell zu versorgen. Jetzt ist zusätzlicher Eigenschutz gefragt: Jacke und Helm sind Pflicht – auch für den Reporter. Die Feuerwehrleute legen die Pressluftatmer an. Zum Glück kann aber schnell Entwarnung gegeben werden: Es war nur ein angebranntes Essen, die Feuerwehr muss nur noch durchlüften.
Einsatz 9: Verletzt nach Schlägerei
Für den RTW 3 ist die Verschnaufpause aber denkbar kurz: Am Bergischen Ring hat es eine Schlägerei gegeben, drei Polizeiautos sind schon vor Ort. Ein stark alkoholisierter junger Mann hat Verletzungen im Gesicht. Er will mit in das darauf spezialisierte Josefs-Hospital nach Altenhagen, dann auch wieder nicht, dann doch. Auf der Fahrt redet er in einer Tour, bemitleidet sich und die Welt. Im Josefs-Hospital werden seine Wunden professionell versorgt – was ihn nicht davon abhält, den Pfleger einmal als „Arschloch“ zu beleidigen.
Einsatz 10: In Kleingartenanlage gestürzt
Alkohol bleibt die Konstante in dieser Samstagnacht. Im gesitteten Rahmen ist in einer Kleingartenanlage gefeiert worden, ein Mann mittleren Alters ist aber böse gestürzt, hat eine Knieverletzung erlitten, die ihn sichtbar schmerzt und verängstigt. Es ist stockdunkel, doch Thimo Lückmann manövriert den Rettungswagen gekonnt rückwärts durch die engen Wege der Anlage bis zu dem Häuschen.
Wissenswertes über den Rettungsdienst der Hagener Feuerwehr
Dennis Larisch ist derweil schon zu Fuß vorgegangen und hat die Lage sondiert. Mit einer Vakuumschiene wird das Bein fixiert, dann wird der Mann mit dem Rettungstuch vorsichtig durch den dunklen Garten getragen und ins Josefshospital gebracht.
Einsatz 11: Mit 14 Jahren betrunken in Unterhosen
Jetzt wäre eigentlich die Zeit, in der das RTW-Personal nach 15 Stunden Dienst eine Mütze Schlaf in einem der Schlafräume in der Wache Mitte verdient hätte, doch der der RTW 3 wird in ein gutbürgerliches Viertel gerufen. Ein 14-Jähriger ist betrunken, hat nur in der Unterhose das Haus verlassen. Die Polizei ist von Zeugen alarmiert worden und ruft den Rettungsdienst. Gehört der junge Mann, der zwar betrunken aber wach ist und in einer Tour redet, nicht ins Bett statt ins Krankenhaus? Die RTW-Besatzung kann sich diese Frage nicht stellen, denn auch inzwischen dazu gekommene Angehörige sind dafür, dass er ärztlich untersucht wird. Und so wird der junge Betrunkene wegen seines Alters in die Kinderklinik gebracht.
Einsatz 12: Der Betrunkene, der auch noch beleidigt
Und dann um kurz nach 4 Uhr noch der junge, modisch gekleidete Mann, der ebenfalls zu viel getrunken hat und den die Polizei an der Rembergstraße gefunden hat. Auch er ist wieder wach, als der RTW 3 eintrifft. Auch hier stellt sich der Normal-Bürger die Frage: Ist er ein Fall für den Rettungsdienst? Aber auch hier bleibt der Besatzung keine Wahl. Sie fährt ihn ins Krankenhaus – und muss sich von ihm noch beleidigen lassen. Thimo Lückmann und Dennis Larisch bleiben ruhig. Erstaunlich ruhig nach fast 24 Stunden.