Haspe. . Lydia (72) war ihr Leben lang für andere da. Nächstenliebe ist ihre Lebenselexir. Ihr christlicher Glaube schärft den Blick für die Mitmenschen.
- Lydia (72) war ihr Leben lang für andere da
- Nächstenliebe ist ihre Lebenselexir
- Ihr christlicher Glaube schärft den Blick für die Mitmenschen.
Schon im Treppenhaus steigt mir der Waffelduft in die Nase, in ihrem Wohnungsflur mischen sich noch die Aromen von frisch gebrühtem Kaffee darunter. Ausdrücklich hatte ich darum gebeten, bloß keinen Aufwand zu betreiben. Aber als ich es aussprach, war mir schon klar, dass Lydia es kaum würde lassen können. Für andere dazu zu sein, sich zu kümmern, den Menschen Gutes zu tun – das hat sie ihr Leben lang praktiziert und nie ein Dankeschön dafür erwartet. Bescheidenheit, Erdung und ein fesselndes Lachen sind ihre Markenzeichen: „Sie dürfen über mich schreiben, aber bitte nicht meinen wirklichen Namen nennen.“ Sie lebt Nächstenliebe aus Überzeugung und nicht, um damit zu prahlen.
SommerserieMit ihren 72 Lebensjahren ist sie immer Hasperin geblieben. Aufgewachsen am Spielbrink in der Sonnenstraße, zog sie später ins Hasper Bachtal und lebt heute in Kückelhausen. Ihr Vater, Malocher an der Hütte, starb bereits, als sie 13 Jahre alt war. Die Mutter, beschäftigt bei Brandt und später an der Akku, brachte ihre Tochter alleine durch. Eine Verbindung, die bis zum Tod der 95-Jährigen vor fünf Jahren, zum Lebensinhalt für Lydia wurde. „Meine Mama stellte ihre Interessen immer hinter an, ich konnte sie einfach nicht allein lassen“, erzählt die ehemalige Heubing-Schülerin über ihre Mutter, die niemals Ansprüche anmeldete, nie meckerte oder klagte und sich immer zufrieden gab. „Ich hatte immer die Sorge, dass meine Mutter mit ihrer Gutmütigkeit ausgenutzt wird.“
Verhältnis zur Mutter prägte
Ob das auf sie abgefärbt habe? „Das könnte sein“, lächelt die Rentnerin jegliche Zweifel, dass die Antwort nur „Ja“ lauten kann, bescheiden weg. Mit 18 Jahren hatte sie mal einen Freund. Eine Liebelei, bei der sie nicht wirklich auf den Geschmack zu einer klassischen Zweisamkeit kam.
Dankbarkeit der Flüchtlinge liefert die Kraft fürs Ehrenamt
Bis zu den Sommerferien war es ihr Beruf, jungen Menschen als Hauptschullehrerin Wissen zu vermitteln. Seit ihrer Pensionierung vor wenigen Tagen betrachtet sie es als Berufung, Flüchtlingen aus aller Welt die ersten Schritte in den deutschen Alltag hinein zu ebnen. „Ich öffne diesen Menschen Türen in unserer Stadt und führe sie an unsere Gesellschaft heran“, beschreibt Karin Thoma-Zimmermann ihr ehrenamtliches Wirken.
Wissbegierig und motiviert
Seit Herbst vergangenen Jahres engagiert sich die Pädagogin, die in Haspe als Führerin der Kirmesesel den Ruf einer leidenschaftlichen Heimatfreundin genießt, für die Asylsuchenden aus aller Welt. Zunächst übernahm sie an ihrer Schule in Vorhalle eine Auffangklasse mit 15 Kindern im Alter zwischen 12 und 16 Jahren – Syrer, Inder, Rumänen, Bulgaren und Zugereisten aus den Balkanstaaten. „Irgendwie war es eine Arbeit wie in der Grundschule. Diese Menschen sind sehr motiviert, wissbegierig und fragen sogar nach Hausaufgaben. Das machte auch bei mir Lust auf mehr.“
Schnell wurde gegenüber der Flüchtlingsunterkunft in der Spielbrink-Grundschule in den Räumen der Lioba-Kapelle auf Wunsch der Syrer ein Sprachkursus ins Leben gerufen. „Am Ende waren es 20 Personen, die dort in Kleingruppen die ersten Sätze bildeten.“
Eine fordernde Aufgabe, die sich eine Witwe nicht unbedingt ans Bein binden müsste. Doch gerade aus der Erinnerung an ein Erlebnis mit ihrem inzwischen verstorbenen Gatten saugt die 64-Jährige Energie: Nach einem Skiunfall in Südtirol erlebte sie, wie wichtig es sein kann, in der Fremde eine helfende Hand an der Seite zu wissen. Während ihr Mann im Krankenhaus lag, kümmerte sich eine einheimische Familie, die selbst einen Sterbenden in der Klinik besuchte, um Karin Thoma-Zimmermann, half Sprachhürden zu überwinden und lud sie sogar zum Essen ein: „Sie haben sich eines wildfremden Menschen angenommen, mich psychisch aufgefangen, so dass ich nicht allein war.“
Praktische Nächstenliebe
Eine Form der Nächstenliebe, die die Hasperin inzwischen auch in der Unterkunft für alleinreisende Männer in der Neue Straße praktiziert. „Es ist einfach fantastisch, wenn Analphabeten aus Ghana die ersten Wörter lesen können. Daraus sauge ich Kraft, denn die Flüchtlinge geben mit ihrer Höflichkeit und Dankbarkeit auch sehr viel.“
Für andere da zu sein und ihre helfende Hand anzubieten hat letztlich auch ihre Berufsleben geprägt. Als 14-Jährige entdeckte sie als Lehrmädchen in einem Krämerladen auf der Hestert die Welt des Einzelhandels, bevor sie bei Ginsberg und Roigk im Schatten des Hasper Kreisels als Verkäuferin im Textilhandel sich um die Kunden kümmerte: „Es hat mir immer gefallen, wenn die Menschen zufriedener den Laden verlassen haben als sie gekommen sind.“ Ende der 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts wechselte sie letztlich ins Sanitätshaus Rech an der Mittelstraße. Ein Ort, an dem sie Kranken und behinderten Menschen ein Stück Mobilität und damit Lebensqualität zurückgeben konnte. „Vor allem brustamputierten Frauen konnten wir ihr Selbstwertgefühl zurückgeben.“ Ein Job, der Einfühlungsvermögen, Sensibilität, Zugewandtheit und Menschenliebe erfordert – Qualitäten, die für Lydia ein Stück Lebensqualität bedeuten.
Die Basis dafür liefert ihr absolutes Gottvertrauen. Ihr Beruf, die Obhut für ihre Mutter und die Kontakte in einer freien christlichen Gemeinde in Kückelhausen – dieser Dreiklang lieferte ihr das Rüstzeug fürs Leben: „Ich habe nichts verpasst, ich bin glücklich und zufrieden.“ Dass sie sich vorzugsweise für Dritte aufgeopfert hat, würde sie niemals formulieren. „Ich gebe mir immer Mühe, meinen Mitmenschen gegenüber freundlich und nett zu sein. Auch, wenn mir manchmal zu wenig zurückkommt“, denkt sie an so manche Begebenheit im Bus oder an der Supermarktkasse. „Ich kann den Menschen nur zu etwas mehr Gelassenheit raten.“ Lydia findet sie in ihrer Liebe zu Gott: „Er gibt mir Orientierung.“ Vor 30 Jahren hat sie ihren Fernseher abgeschafft. Sie hört lieber Radio, frönt der Handarbeit, singt oder liest christliche Bücher – „um meinen inneren Menschen zu festigen“.
Mit Kuchen in die Bibelstunde
„Trotz Osteoporose und vier gebrochener Wirbel brauchte meine Mutter nicht ins Pflegeheim“, hat Lydia die 95-Jährige – zuletzt unterstützt durch eine Diakonieschwester – in der schmucken Wohnung in Kückelhausen gepflegt. „Sonst wäre sie eingegangen, denn sie hätte sich einfach nicht gemeldet. Aber ich habe das gern gemacht.“ Regelmäßig schaute der Hausarzt vorbei, dem Lydia immer wärmende Socken für seine Segeltörns strickte. Geben im Sinne praktizierter Nächstenliebe ist ihre Form der Selbstverwirklichung. Wenn sie zur Bibelstunde beim Blauen Kreuz vorbeischaut, dürfen sich die Suchtkranken regelmäßig auf eine ihrer legendären, frisch gebackenen Donauwellen freuen. In diesem Kreis findet sie Gleichgesinnte und Halt, beispielsweise für die Weihnachtsfreizeit für Alleinstehende im Siegerland. 2015 musste sie die Fahrt wegen eines Oberschenkelbruchs absagen. „Aber für 2016 bin ich bereits angemeldet.“ Bei einer Rente von 825 Euro ist mehr eben nicht drin. „Und ich habe 44 Jahre Vollzeit gearbeitet“, will sich Lydia aber gar nicht beschweren.
Selbstlosigkeit als Lebensprinzip
„Für andere da zu sein, tut mir gut und gibt mir Kraft.“ Ziehen neue Mieter ins Haus ein, schmiert sie Brötchen. Backt sie Kuchen, werden die Nachbarn gleich mitversorgt. „Ich bete auch für andere.“ Selbstlose Menschen- und Nächstenliebe als Lebensprinzip.
Natürlich packt sie mir zum Abschied reichlich Apfelwaffeln für die Kollegen ein. Ich hätte die 72-Jährige niemals davon abhalten können. Die Redaktion hat’s genossen. Das zu wissen, ist Lydias schönster Dank.