Hagen. . Für Jennifer war es Liebe auf den ersten Blick. Beim Anblick ihrer Lehrerin war es um sie geschehen. Eine unerwiderte Liebe, die ihre Gefühle bestimmt.

  • Für Jennifer war es Liebe auf den ersten Blick
  • Beim Anblick ihrer neuen Lehrerin war es um sie geschehen
  • Eine unerwiderte Liebe, die ihre Gefühle bestimmt

Erster Schultag an einer Hagener Berufsschule. Für Jennifer eigentlich der Start in die Berufswelt der Kinderpflegerin. Doch es wird der Auftakt zu einer Achterbahnfahrt der Empfindungen, der Aufbruch in ein absolutes Gefühlschaos, in ein ihr bislang völlig unbekanntes emotionales Universum: Die heute 29-Jährige, die bis dato nur klassische heterosexuelle Beziehungen pflegte, verliebt sich vor acht Jahren in ihre Lehrerin. Eine unerfüllte Liebe, die ihren Alltag aus den Fugen geraten lässt und bis heute stark beeinflusst.

Alles wie in der Grundschule: Aula, salbungsvolle Worte und viele Namen, aus denen sich die Klasseneinteilung ergibt. Und dann diese Frau, ihre Lehrerin: „Es fuhr wie ein Blitz durch mich hindurch. Sie war kaum älter als ich, hätte eine Mitschülerin sein können und ich dachte nur ,Wow!‘. Natürlich habe ich versucht, dieses Gefühl sofort wieder zu verdrängen, aber das hat nur ganz schlecht funktioniert.“ Jedes Mal, wenn die Pädagogin in der Nähe ist, kann sie den Blick nicht wenden und versinkt in einer Traumwelt. „Das hat mir zum einen Angst eingejagt, weil ich nicht wusste, wie ich damit umgehen sollte. Zum anderen war das aber auch spannend und ein ganz interessantes Gefühl.“

SommerserieDamals lebte sie noch in einer Beziehung, ein Verhältnis, das sie nach sieben Jahren beendete, als ihre Gefühle Karussell fuhren. „Für ihn ist damals eine Welt zusammengebrochen.“ Rational erklären konnte sie ihrem Ex-Freund nicht, was ihr widerfuhr. Ihr Lebensgefährte ist bloß wortlos aufgestanden und gegangen. „Es war nicht so, dass ich ihn nicht mehr geliebt habe. Aber ich wollte, um selbst noch in den Spiegel gucken zu können, dass das nicht zwischen uns steht.“

Keine flüchtige Laune

Seit ihrer Einschulung an der Berufsschule waren immerhin schon vier Monate vergangen, so dass sie zumindest sicher sein konnte, dass es mehr als eine flüchtige Laune war. „Vorher hatte ich versucht, das zu verdrängen, weil ich dachte, dass es ein Gefühl ist, das nicht echt ist, lediglich der Drang zum Experimentieren.“

Doch inzwischen hatte sich das Liebe-auf-den-ersten-Blick-Gefühl manifestiert und von Jennifers Emotionswelt Besitz ergriffen. „Ich hatte nachts die wildesten Träume, diese Frau immer wieder vor mir gesehen. In der Schule war ich wie paralysiert, konnte mich auf nichts anderes konzentrieren als auf diese Lehrerin, die vorne an der Tafel stand, zur Klasse sprach ohne dass ich realisierte, worüber sie sprach.“

Anrufe, um die Stimme zu hören

Eine Klassenkameradin, der sie sich anvertraute, besorgte aus dem Internet die Kontaktdaten der Pädagogin. Die heute 29-Jährige hatte seinerzeit weder einen Internetanschluss noch einen Computer. „Ich habe an den Wochenenden bei ihr angerufen, weil ich die Stimme hören musste.“ Sie hat sich ins Auto gesetzt, um sie in einer Nachbargemeinde zu besuchen, ist durch ihre Wohnsiedlung gepilgert, hat – aus Angst vor Entdeckung – sich Alibi-Adressen rausgesucht, wo sie angeblich eine Freundin besuchen wollte. „Ich habe im strömenden Regen eine Stunde im Gebüsch gesessen und gewartet, ob sie vielleicht rauskommt.“ Es war zum Teil Winter und bitterkalt. Ihren Klassenkameradinnen blieb die Liebelei kaum verborgen. „Die haben immer gesagt, ich säße wie ein Honigkuchenpferd im Unterricht und sei am Grinsen. Die haben mich für bescheuert erklärt.“

Objekt unerfüllter Wünsche

Dr. Nikolaus Grünherz, langjähriger Leiter der Abteilung für Psychiatrie und Psychologie am St.-Johannes-Hospital in Boele, betrachtet Jennifers Gefühlswelt keineswegs bloß als Kuriosum, sondern spricht durchaus von einem „überwertigen Charakter“ dieses Phänomens. Der Experte entdeckt Züge von Erotomanie (wahnhaft ausgeprägte Liebe zu einer unerreichbaren Person), spricht jedoch lieber von einem „sensitiven Beziehungswahn“.

In der Medizin wurden diese seltenen Fälle häufiger Mitte des letzten Jahrhunderts – also nach dem Zweiten Weltkrieg – bei älteren Damen beschrieben, so Grünherz, wenn diese fest davon überzeugt waren, dass ein Mann aus ihrer Umgebung sich angeblich in sie verguckt habe und ihnen nachstelle. Allerdings wussten diese Männer nie etwas davon. „Das Wahnhafte daran ist, dass diese Frauen dann unkorrigierbar davon überzeugt sind, dass dieser Jemand doch etwas von ihnen will“, beschreibt der Mediziner die Gemütslage der Betroffenen. Dass der Gegenüber keinerlei emotionalen Signale aussendet, wird von den Frauen dann eher als schamhaftes Verhalten interpretiert, um mit den wahren Gefühlen nicht aufzufallen.

Es handele sich um rein einseitige Liebesemotionen, die sich in der Fantasiewelt der Betroffenen abspielten, so Grünherz. Häufig gehe damit ein Schutz vor Einsamkeit einher: Die betroffenen Frauen steigerten sich in eine Konstellation hinein, als seien sie für einen anderen Menschen tatsächlich sehr wichtig und projizieren in diese Person dann ihre unerfüllten Wünsche.

Natürlich gab es auch Selbstzweifel, vor allem weil plötzlich erotische Gefühle zu einer Frau aufblitzten. „Das ist jetzt unnormal, das passt nicht ins Weltbild meiner Eltern, war ein ganz starker Gedanke. Und ich wollte es auch selbst nicht, weil es mir komisch war.“ Natürlich wusste Jennifer schon damals, dass eine Beziehung zum Lehrer eigentlich nicht funktionieren kann. Aber gleichzeitig hegte sie die Hoffnung, dass ihre Liebe vielleicht im Anschluss an die zweijährige Ausbildung Realität werden könne.

Berührungen beim Ausflug

Zumal sie auch immer wieder Signale empfing, dass sich gegenseitige Gefühle entwickeln. „Ich weiß nur bis heute nicht, ob ich es mir eingebildet habe, oder ob es real war.“ Mal waren es eindeutige Blicke, mal Berührungen bei einem Ausflug, die eher zufällig entstanden, aber in Jennifers Augen von der Lehrerin gezielt herbeigeführt wurden. Einmal gab es bei einer Schüleraufführung auch das Angebot, ihr aus dem Kleid helfen zu wollen. „Für mich waren das alles Zeichen, dass sie versuchte, mir näher zu kommen.“

Zum Ende des ersten Schuljahres beichtete Jennifer ihre Liebe letztlich einer Vertrauenslehrerin, weil sie kaum noch Nahrung zu sich nehmen konnte. Innerhalb eines halben Jahres hatte die seinerzeit korpulente Eilperin 60 Kilo abgenommen. Eine Woche später wurde sie kreidebleich aus dem Unterricht heraus beordert und von ihrer Liebe zur Rede gestellt. Eine Situation, die sie heute als Tribunal abseits jeglichen pädagogischen Fingerspitzengefühls beschreibt. Für den Rest des Tages wurde sie vom Unterricht suspendiert und kehrte voller Tränen nach Hause zurück. „Vergeblich habe ich an dem Tag auf ihren Anruf gewartet, in dem sie sich entschuldigt, mir erklärt, dass sie so regieren musste, mir aber ihre wahren Gefühle offenbart.“ Von Stund an wurden die Begegnungspunkte systematisch reduziert und Jennifer versuchte, ihr aus dem Weg zu gehen, baute Distanz auf. Doch die Gefühle waren deshalb nicht erloschen.

Romantische Träume in der Nacht

Zumal im zweiten Ausbildungsjahr die Kontakte wieder zunahmen. Gespräche rund um Schulthemen glitten schnell ins Private ab. Die Pädagogin erkundigte sich plötzlich wieder nach Jennifers Wochenendplänen, ihre Gefühlswelt geriet prompt wieder in Wallung. „Meine Gedanken waren sofort wieder bei ihr, romantische Träume in der Nacht, jedes Mal wenn ihr Autotyp vorbeifuhr, stockte mir der Atem, alles wieder wie vorher.“ Ein Auf und Ab bis zum Ende der Ausbildung. Alles, was sie im Griff zu haben schien, entglitt wieder ihren Händen. Eine andere Beziehung kam für sie gar nicht in Frage. „Ich war vom Kopf her vergeben.“

Erst nach ihrer Berufsschulzeit konnte sie sich wieder auf eine Beziehung mit einem Mann einlassen, der ihr zwar bereits seit Kindergartentagen vertraut, aber mit seinem bisherigen Lebensweg eher gestrandet vorkam. Eine mehr sozial als emotional motivierte Liaison, die Jennifer („Ich habe ein Helfersyndrom“) nach fünf Monaten wieder beendete. „Ich hatte in all dieser Zeit immer das Gefühl, als würde ich meine Lehrerin betrügen.“

Schwierige Partnersuche

Jennifer arbeitet damals schon in einem Kindergarten, inszenierte aber auch immer wieder Gründe, an der Berufsschule vorbeizuschauen, um ihrer wahren Liebe zu begegnen: „Ich wollte mir selber ins Herz stechen, damit es auch richtig schön blutet“, formuliert sie heute. Inzwischen hat Jennifer damit begonnen ein Buch zu schreiben, um ihre Gefühle zu ordnen. Knapp 200 Seite sind formuliert, aber ihre Hoffnungen längst nicht erloschen. „Mir fehlt noch das Ende.“ Welchen Abschluss sie akzeptieren würde, weiß sie nicht. Natürlich stöbert sie heute auf Dating-Portalen im Netz – vorzugsweise nach Männern, aber auch schon mal nach Frauen.

„Ich habe das jetzt im Griff“, behauptet Jennifer von sich. Aber sie weiß auch nicht, was passieren würde, wenn sie ihrer Lehrerin das nächste Mal begegnet. Egal ist sie ihr definitiv nicht. „Natürlich habe ich seitdem auch nette Männer kennengelernt. Aber ich suche immer nach Fehlern, warum das nicht funktionieren kann.“ Dabei denkt sie abends schon oft, dass es schön wäre, jemanden bei sich zu wissen.

„Vielleicht ist das letzte Kapitel des Buches, dass ich mich völlig neu verliebe. Ich warte aber auch immer noch auf den Tag, dass bei mir im Kindergarten die Tür aufgeht, und sie einen unserer Praktikanten besucht. Ich weiß nicht, was dann passiert …“