Altenhagen. Mit dem, was er drauf hat, könnte man hierzulande versuchen, etwas aus sich zu machen, das einen erfüllt und womit man genug Geld verdient, dass man sich und eine kleine Familie ordentlich leben lassen könnte.
- Ein Flüchtling will nicht weiter rumsitzen
- Billy sucht Kontakt in der Gesellschaft
- Schwere Traumata
Er möchte Tee. So übermäßig wie viele Deutsche Kaffee in sich hineinschütten, ist er das nicht gewohnt. Ohnehin hat er Magenprobleme. Es gibt zu viel Fleisch. Sein Bein tut weh. Es war gebrochen. Sturz aus dem dritten Stock. Dass er zusammenzuckt, wenn jemand oberhalb des Kopfes gestikuliert und dass grausame Bilder in seinen Kopf schießen, obwohl er krampfhaft versucht, nach vorn zu blicken, zermürbt ihn. Er ist 28. Mit dem, was er drauf hat, könnte man hierzulande versuchen, etwas aus sich zu machen, das einen erfüllt und womit man genug Geld verdient, dass man sich und eine kleine Familie ordentlich leben lassen könnte.
„Alles, was ich will, ist jemand, der mir eine Chance gibt und der mir hilft, euer Leben, eure Gesellschaft und eure Stadt zu verstehen. Ich brauche Akzeptanz und einen Menschen“, sagt Billy, der sich, immer noch aus Angst vor Verfolgung, einen anderen Namen gegeben hat.
Ich hatte gedacht, zu Fuß vom Pressehaus in die Berghofstraße zu gehen, wo seine Notunterkunft liegt, sei ein gesunder Spaziergang. Billy ist durch die Wüste gelaufen. Aus seiner Heimatstadt in Syrien Richtung Irak. Ich hoffe immer, dass die etwas Älteren in meiner Familie lange gesund bleiben. Billys Bruder wurde von einem Scharfschützen erschossen. Seine Mutter starb im Bombenhagel.
Billy selbst wurde wegen seiner „verbotenen Kunst“ von ISIS-Kämpfern gejagt. Ich habe eine Arbeitsstelle, ich darf Pläne machen und träumen. Billy ist niemand, er hat noch nicht mal mehr eine Nationalität. Er hat ein Bett in einer Turnhalle. Dass er Englisch studiert hatte, auf dem Weg war, Lehrer zu werden, dass er – aus meiner bescheidenen Laiensicht – ein astreines Händchen für Bilder, Strichzeichnungen, Streetart und Kunst im Allgemeinen hat, all das ist gerade nichts mehr wert. 28 Jahre Persönlichkeitsentwicklung, Talentförderung, Lernen, Streben – der Krieg in Syrien, die Flucht, die schlimmen Erfahrungen und seine aktuell zähe Situation haben alles zunichte gemacht. So wie Billy geht es Hunderten Menschen in Hagen. So wie Billy stecken Hunderte in einer psychologischen und in einer schweren Identitätskrise.
„Jetzt sitze ich in einer Turnhalle. Seit vier Monaten. Und nichts geschieht. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich will nicht dass der Eindruck entsteht, dass ich denken würde, dass mir hier in Europa ein Traumleben geschenkt wird. Ich bin bereit, bei Null anzufangen. Aber jemand muss mir zeigen, wie es geht. Nur vom Rumsitzen im Camp und durch Warten auf irgendwelche Papiere kann ich dieser Gesellschaft nicht nützlich werden.“
Ein Händchen für Kunst
Wir treten kurz vor die Bäckerei. Von hier oben an der Vinckestraße kann man durch die Straßenschluchten hinüber schauen Richtung Buschey und Richtung Wehringhausen. Ich erkläre ihm, dass dort viele Künstler und Menschen leben, die ihr Geld mit Kreativität verdienen. „Da werde ich mal rüberlaufen“, sagt Billy. Mit wem er denn dort mal sprechen könnte? Über Kunst und Streetart zum Beispiel? Ich nenne ihm ein paar Namen.
Die Umstände im Camp seien mitunter höchst schwierig, sagt er. Aneinandergereihte Betten ohne Abgrenzungen. Keine Privatsphäre, Massenabfertigung. Wenn man durch Krieg, Gewalt und Misstrauen geprägt sei, denke man über jeden Schluck Wasser nach, der einem in der Unterkunft gereicht wird. Er könnte vergiftet sein. Wenn derjenige, der das Camp leitet, in mal etwas strengerem Ton an die Regeln erinnert und dabei der Satz „Das ist mein Camp“ fällt, dann fühlen sich Menschen wie Billy schnell unterdrückt.
In der Unterkunft gebe es eine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Jene, die vor Krieg und Gewalt geflohen seien und jene, die sich dem Flüchtlingsstrom einfach angeschlossen hätten, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Für alle gelten hier die gleichen Chancen, das gleiche Recht – aber nicht in den Augen des jeweils anderen.
Menschlichkeit gesucht
„Ich glaube, sowas kann sich lösen, wenn man Vertrauen zu den Menschen hier fassen kann. Aber dafür muss ich mit den Menschen in Kontakt kommen können. Über Arbeit, Gespräche oder Freizeit. Ich suche Menschlichkeit. Ist das nicht auch ein Menschenrecht?“