Hagen-Haspe. . Das Leben der 77-jährigen Inge Müller hat eine tragische Wendung genommen. Doch Müller ist wieder aufgestanden. An Weihnachten erzählt die Heimbewohnerin von ihrem „magischen“ Moment.
- Das Leben von Inge Müller nahm eine tragische Wendung
- Doch ein Junge im rollstuhl brachte die Wende
- Rückblick auf die Heilgen Abende eines Lebens
Inge Müller (77) ist ihr Leben lang nicht zum Arzt gegangen. Sie war ja immer gesund, warum hätte sie einen Arzt aufsuchen sollen? Sie hatte nicht einmal einen Hausarzt. Und dann kam es knüppeldick, ein Schlaganfall ereilte sie in ihrer Wohnung auf dem Spielbrink, sie wurde von Nachbarn gefunden und verbrachte zwölf Wochen in der Klinik in Ambrock. „Es hat mich einfach getroffen.“ Inge Müller fiel in ein tiefes Loch.
Die alte Zeit
Sie waren zu neunt. Inge Müller war das zweitälteste Kind, die jüngste Schwester war 21 Jahre jünger als sie. Bescherung war am ersten Weihnachtstag, dann gingen die Müller-Kinder morgens in die Kirche, sagten zu Hause Gedichte auf und sangen gemeinsam Weihnachtslieder. Die Geschenke unter dem Tannenbaum waren nicht eingepackt, den Geschwistern war ohnehin der Teller mit den Süßigkeiten, den Apfelsinen und den Nüssen wichtiger. „Wir waren ja die Nachkriegskinder“, sagt Inge Müller und beschwört mit diesem einen Satz die Entbehrungen ihrer Generation herauf.
Der Umzug
Sie kehrte nie wieder in ihre Wohnung zurück. Inge Müller hatte mit dem Leben abgeschlossen, als sie die Klinik verließ, sie wollte auch ihre Sachen nicht wiederhaben, sie war rechtsseitig gelähmt und dachte in tiefer Melancholie an die Zeit vor dem Schlaganfall und dass sie alles selbstständig erledigen konnte. Aus dem Krankenhaus zog sie direkt ins Altenheim auf dem Mops.
Der Baum
Im Weihnachtsbaum hingen Lebkuchen, Zucker- und Schokoladenriegel. Dafür und für die Weihnachtsteller hatte die Mutter das ganze Jahr über gespart, Inge Müller erinnert sich mit großer Wärme an jene Frau, die die Familie in der Zeit der Lebensmittelmarken zusammenhielt und die immer für ihre neun Kinder da war und der man alles erzählen konnte und die qualvoll dem Krebs erlag. Bis zum Dreikönigstag blieben die kostbaren Süßigkeiten zwischen den Nadeln hängen. „Dann erst durften wir den Baum plündern.“
Die Beobachtung
Eines Tages beobachtete Inge Müller im Park vor dem Altenheim einen kleinen Jungen. Er saß im Rollstuhl und flitzte eine Rampe hoch und runter, er sprühte vor Lebensfreude. Es war ein einschneidendes Erlebnis für die alte Frau, die sich der Resignation hingegeben hatte: „Als ich den Jungen sah, habe ich mir gesagt: So geht es nicht weiter!“ Sie begann mit Gedächtnistraining, Sturzprophylaxe, Sitztanz, Gymnastik und Singen. Sie trainierte mit eiserner Disziplin, bis der rechte Daumen wieder funktionstüchtig war. Inge Müller begann, ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen. Sie kroch aus dem Loch.
Der Zusammenhalt
Inge Müller heiratete nie. Aber am Heiligen Abend kamen ihre Geschwister mit den Kindern zu ihr auf den Spielbrink. Inge Müller spricht es nicht aus, aber sie schlüpfte in die Rolle ihrer Mutter. Sie war 42 Jahre lang im Verkauf bei Woolworth tätig, das hektische Weihnachtsgeschäft ist ihr ein Begriff, desto mehr genoss sie, dass die Verwandten sich bei ihr versammelten. Es war wie früher, sie hatten ja immer zusammengehalten. Und das hatten sie der Mutter zu verdanken.
Die Demenzkranken
Donnerstag war Heiligabend. Die Geschwister haben Inge Müller vor einer Woche besucht, nun feierte sie mit den Heimbewohnern. Sie sangen gemeinsam Weihnachtslieder, die haben auch die Demenzkranken nicht vergessen. Manchmal fragt eine Mitbewohnerin Inge Müller: „Wo ist mein Mann?“ Dann antwortet sie: „Er arbeitet.“ Soll sie etwa sagen, dass er tot ist? Das wäre die Wahrheit, aber mit der Wahrheit können die Vergesslichen nicht umgehen: „Ich muss ins gleiche Horn blasen wie sie, dann sind sie zufrieden.“ Dass sie im Altenheim eine neue Familie gefunden hat, wäre zuviel gesagt. Inge Müller vermisst ihre Geschwister, aber sie möchte niemandem zur Last fallen und sich nicht mit dem schweren Rollstuhl in irgendeine Wohnung wuchten lassen.
Inge Müller hat gelernt, dass sie nicht in der Vergangenheit leben darf. Sie erzählt, was sie nach dem Schlaganfall alles wieder erlernt hat, nicht was sie einst konnte. Sie fährt im Rollstuhl durch Haspe. Sie ist Linkshänderin geworden. Beinahe wäre sie verzweifelt. Sie denkt an den kleinen Jungen im Rollstuhl und wie er sie kämpfen ließ und dass man nicht verzweifeln darf. Der kleine Junge hat sie gerettet. Am Barren-Handlauf hat sie einen neuen persönlichen Rekord aufgestellt, sie hat die Strecke elfmal hin und her zurückgelegt.
Die Puppe
Die neun Müller-Kinder besaßen eine Puppe. Vor dem Fest war sie plötzlich verschwunden, die Mutter erzählte, das Christkind habe sie abgeholt. Am Heiligen Abend war sie wieder da, aufgearbeitet und frisch eingekleidet, und wurde der nächst jüngeren Schwester geschenkt.