Hagen. Aus der DDR geflüchtet und in Hagen groß geworden, reiste Ulrich Wellert immer wieder zurück in die DDR, um Verwandte zu besuchen. Am Tag, an dem die Mauer fiel, fuhr er mit seinem Opel Kadett von Weimar zurück nach Hagen. Den historischen Tag hätte er fast verpasst. Ein Gespräch über die Freiheit.

Als Ulrich Wellert an jenem Tag an der Grenze losrollte, da geschah in seinem Rückspiegel Geschichte. Da bäumte sich mit der ganzen Kraft eines Volkes die Freiheit auf. Nur er, ausgerechnet er, bemerkte es nicht. Am Steuer seines Opel Kadett Kombi wirkte dieser historische Tag so normal, dass er niemals geglaubt hätte, dass seine staunende Frau ihm am Abend mit weit aufgerissenen Augen schon vom Balkon entgegenrufen würde: „Ulrich, du wirst es nicht glauben. Die Mauer ist weg.“

Was wäre gewesen, wenn Ulrich Wellert mit seiner Mutter 1958, als der Mauerbau noch drei Jahre entfernt war, nicht an der Bernauer Straße in Berlin über die Grenze gegangen wäre? Wenn das Drehbuch ihres Lebens sie nicht über Marienfelde und die Pfalz nach Hagen geschickt hätte?

Als zum Wochenbeginn der Spielfilm „Das Leben der Anderen“ in der ARD ausgestrahlt wurde, da hat Ulrich Wellert sich diese Frage gestellt. Wenn er und seine Mutter an der Bernauer Straße im Norden der Berliner Innenstadt, wo sich heute die zentrale Gedenkstätte „Berliner Mauer“ befindet, 1958 nicht über die Grenze getreten wären, dann wäre Freiheit viele Jahre lang nur ein Traum gewesen.

Wellerts Ausreise-Erlaubnis für den 9.November 1989 - der Tag des Mauerfalls.
Wellerts Ausreise-Erlaubnis für den 9.November 1989 - der Tag des Mauerfalls. © Fiebig

Dann wäre auch er, wie „Das Leben der Anderen“ es dramatisch nachzeichnet, in einem Überwachungsstaat groß geworden, der seine Bürger verwanzte, ihre Leben in Karteikästen säuberlich archivierte und Druck ausübte gegen jeden, der die sozialistische Regime-Linie gedanklich verließ. Hätte, wenn und aber, das sind die Einschränkungen, die das Leben von Ulrich Wellert gänzlich hätten verändern können.

Flucht an der Bernauer Straße

Wellert wurde in Weimar geboren. Seine Mutter wurde ein Vierteljahr lang inhaftiert, weil sie für Bekannte im Westen Dinge transportiert hatte. Nach ihrer Freilassung war für die alleinerziehende Mutter Wellert klar: Wir verlassen dieses Land. Von Weimar fuhren sie nach Erfurt, um von dort mit der sogenannten „rasenden Wildsau“, einem damals legendären Zug, nach Ost-Berlin. An der Bernauer Straße traten die beiden nahezu unbehelligt über die Grenze, und es begann eine Reise über ein Flüchtlingslager in Marienfelde, zu Verwandten in die Pfalz bis nach Hagen.

Regelmäßige Besuche in der DDR

„Ab 1967 habe ich die DDR regelmäßig besucht“, sagt Wellert, der im Westen Lokführer geworden war. Jahrelang reiste er zu seinen Verwandten. So auch vom 7. bis zum 9. November 1989. Wie immer hatte er sich eine Einreisegenehmigung besorgt. Wie immer war er mit seinem Kadett rübergefahren. „Diesmal hatte ich bei der Einreise zum ersten Mal nichts dabei, das man mir hätte wegnehmen können.“ Es war das letzte Wochenende der DDR. Und irgendwie muss es sich so angefühlt haben, als wenn das alles hier noch 100 Jahre anhält und Wellert noch 1000-mal über die Grenze rollen würde.

„Es gab am 7. November 1989 eine Demo in Weimar. Ich war beeindruckt von diesem Meer von Kerzen und der Bewegung, die da aufgekommen war.“ Tausende Menschen gingen auf die Straße. Ihr Ruf nach Freiheit, einem vereinigten Deutschland und dem Fall der Mauer hallte nicht nur durch die beiden deutschen Staaten, sondern durch die ganze Welt. „Ich habe beim Stammtisch in Weimar noch gesagt: ,Leute, so schnell geht es nicht. Es gibt keinen Knall und dann sind alle Trabis plötzlich ein Mercedes’.“ Die Trabis blieben Trabis. Schnell ging es trotzdem.

Am 9. November 1989 war Wellert auf der Heimreise nach Hagen 

Am 9. November, einem Donnerstag, machte sich Ulrich Wellert wie immer gegen 14 Uhr auf die Heimreise nach Hagen. „Ich schwöre es ihnen, ich habe nichts mitbekommen“, sagt er und wirkt dabei so wie die Film-Figur Christiane Kerner (Katrin Sass), um die herum in dem Film „Good bye, Lenin“ versucht wird, die eingestürzte Welt der DDR aufrechtzuerhalten, weil sie den Schock des Mauerfalls nach längerem Koma nicht verkraften würde.

Also juckelte Wellert mit seinem Opel Kadett rund 400 Kilometer zurück nach Hagen. Als er dort ankam, stand seine Frau mit einem Gesichtsausdruck auf dem Balkon, als wäre ihr der Heilige Geist erschienen. „Die Mauer ist gefallen“, rief sie dem heimkommenden Wellert entgegen, die Mauer ist weg.“

Plötzlich war seine Heimat hinter der Mauer ein Teil des Landes, in dem er seit seinen Schritten über die Grenze an der Bernauer Straße glücklich geworden war. Wellert hatte das erlebt, all das genossen und von all dem profitieren können, wonach sich Millionen Bürger der DDR jahrelang gesehnt hatten. Kein Reichtum, keine technischen Errungenschaften. Nein. Freiheit, ein Gut, das kein Wohlstand dieser Welt dir ersetzen kann. Frei von den Fesseln eines Überwachungsstaates. Von Kontrolle. Von Druck.

Für Wellert ist viel geblieben

Was ist davon geblieben nach 25 Jahren? „So glücklich wie ich damals war, so sehr ich mich für die Menschen gefreut habe – genau die gleichen Gefühle habe ich heute. Ich glaube, es ist eine Menge von dem geblieben, was damals entfacht wurde. Vom Glück über die Freiheit. So wie es gekommen ist, ist es gut. Ich bin immer noch froh über die Wiedervereinigung.“

Bilder vom Mauerfall 1989

Von 1961 bis 1989 trennte die Berliner Mauer den Ostteil vom Westteil der Stadt. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 wurde die Mauer geöffnet. Die Menschen ...
Von 1961 bis 1989 trennte die Berliner Mauer den Ostteil vom Westteil der Stadt. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 wurde die Mauer geöffnet. Die Menschen ... © dpa
... kamen in Massen nach Westberlin und feierten ihre neue Freiheit. Im Laufe der ...
... kamen in Massen nach Westberlin und feierten ihre neue Freiheit. Im Laufe der ... © dpa
... nächsten Tage kamen immer mehr Ostberliner nach West-Berlin.
... nächsten Tage kamen immer mehr Ostberliner nach West-Berlin. © IMAGO
Freudentränen an der Grenze.
Freudentränen an der Grenze. © IMAGO
West-Berliner versuchten mit Hämmern, Kreuzhacken und den bloßen Händen die Berliner Mauer einzureißen.
West-Berliner versuchten mit Hämmern, Kreuzhacken und den bloßen Händen die Berliner Mauer einzureißen. © dpa
Ost-Berliner feierten in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 ihre neue Freiheit.
Ost-Berliner feierten in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 ihre neue Freiheit. © IMAGO
Ost-Berliner feierten in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 ihre neue Freiheit.
Ost-Berliner feierten in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 ihre neue Freiheit. © IMAGO
Ost-Berliner feierten in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 ihre neue Freiheit.
Ost-Berliner feierten in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 ihre neue Freiheit. © IMAGO
Schlagbäume an der offenen Grenze zwischen Ost und West verloren am frühen Morgen des 10. Novembers ihre Bedeutung.
Schlagbäume an der offenen Grenze zwischen Ost und West verloren am frühen Morgen des 10. Novembers ihre Bedeutung. © dpa
Blumen zur Begrüßung: Ost- und Westberliner feierten gemeinsam den Mauerfall.
Blumen zur Begrüßung: Ost- und Westberliner feierten gemeinsam den Mauerfall. © IMAGO
Ost- und Westberliner feierten gemeinsam den Mauerfall.
Ost- und Westberliner feierten gemeinsam den Mauerfall. © IMAGO
Auf der West-Berliner Seite tummelten sich nach dem Mauerfall Fotografen und Kameraleute aus der ganzen Welt.
Auf der West-Berliner Seite tummelten sich nach dem Mauerfall Fotografen und Kameraleute aus der ganzen Welt. © dpa
"Trabi-Kolonne" in Westberlin. Ost- und Westberliner feierten gemeinsam den Mauerfall. © dpa
Blumen für die DDR-Grenzsoldaten von einem West-Berliner Polizisten.
Blumen für die DDR-Grenzsoldaten von einem West-Berliner Polizisten. © dpa
Weg in die Freiheit: In Massen kletterten die Menschen über die Berliner Mauer, um nach West-Berlin zu kommen.
Weg in die Freiheit: In Massen kletterten die Menschen über die Berliner Mauer, um nach West-Berlin zu kommen. © IMAGO
Menschenmassen am Grenzübergang Bernauer Straße in Berlin: Millionen DDR-Bürger reisten nach Öffnung der Mauer für einen kurzen Besuch in den Westen.
Menschenmassen am Grenzübergang Bernauer Straße in Berlin: Millionen DDR-Bürger reisten nach Öffnung der Mauer für einen kurzen Besuch in den Westen. © dpa
Schlange stehen für das Begrüßungsgeld in Höhe von 100 DM, das die DDR-Bürger erhielten.
Schlange stehen für das Begrüßungsgeld in Höhe von 100 DM, das die DDR-Bürger erhielten. © IMAGO
Bananen für den Osten: Am Tag nach der Maueröffnung nutzten einige DDR-Bürger ihr Begrüßungsgeld zum Einkauf von exotischen Südfrüchten.
Bananen für den Osten: Am Tag nach der Maueröffnung nutzten einige DDR-Bürger ihr Begrüßungsgeld zum Einkauf von exotischen Südfrüchten. © IMAGO
Menschenmassen auf und vor der Berliner Mauer am Brandenburger Tor im Jahre 1989.
Menschenmassen auf und vor der Berliner Mauer am Brandenburger Tor im Jahre 1989. © IMAGO
Kein Grenzposten konnte die Menschenmassen noch aufhalten.
Kein Grenzposten konnte die Menschenmassen noch aufhalten. © IMAGO
Als die Mauer offen war, brach Jubel unter den DDR-Bürgern aus.
Als die Mauer offen war, brach Jubel unter den DDR-Bürgern aus. © IMAGO
Von 1961 bis 1989 trennte die Berliner Mauer Ost- und Westberlin.
Von 1961 bis 1989 trennte die Berliner Mauer Ost- und Westberlin. © IMAGO
Nach Öffnung der Mauer eroberten die DDR-Bürger den Kurfürstendamm in Berlin.
Nach Öffnung der Mauer eroberten die DDR-Bürger den Kurfürstendamm in Berlin. © IMAGO
DDR-Grenzwachen vor dem Brandenburger Tor, wenige Tage vor dem Fall der Mauer. Zu dem Zeitpunkt kam hier noch niemand durch.
DDR-Grenzwachen vor dem Brandenburger Tor, wenige Tage vor dem Fall der Mauer. Zu dem Zeitpunkt kam hier noch niemand durch. © IMAGO
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