Hagen. Aus der DDR geflüchtet und in Hagen groß geworden, reiste Ulrich Wellert immer wieder zurück in die DDR, um Verwandte zu besuchen. Am Tag, an dem die Mauer fiel, fuhr er mit seinem Opel Kadett von Weimar zurück nach Hagen. Den historischen Tag hätte er fast verpasst. Ein Gespräch über die Freiheit.
Als Ulrich Wellert an jenem Tag an der Grenze losrollte, da geschah in seinem Rückspiegel Geschichte. Da bäumte sich mit der ganzen Kraft eines Volkes die Freiheit auf. Nur er, ausgerechnet er, bemerkte es nicht. Am Steuer seines Opel Kadett Kombi wirkte dieser historische Tag so normal, dass er niemals geglaubt hätte, dass seine staunende Frau ihm am Abend mit weit aufgerissenen Augen schon vom Balkon entgegenrufen würde: „Ulrich, du wirst es nicht glauben. Die Mauer ist weg.“
Was wäre gewesen, wenn Ulrich Wellert mit seiner Mutter 1958, als der Mauerbau noch drei Jahre entfernt war, nicht an der Bernauer Straße in Berlin über die Grenze gegangen wäre? Wenn das Drehbuch ihres Lebens sie nicht über Marienfelde und die Pfalz nach Hagen geschickt hätte?
Als zum Wochenbeginn der Spielfilm „Das Leben der Anderen“ in der ARD ausgestrahlt wurde, da hat Ulrich Wellert sich diese Frage gestellt. Wenn er und seine Mutter an der Bernauer Straße im Norden der Berliner Innenstadt, wo sich heute die zentrale Gedenkstätte „Berliner Mauer“ befindet, 1958 nicht über die Grenze getreten wären, dann wäre Freiheit viele Jahre lang nur ein Traum gewesen.
Dann wäre auch er, wie „Das Leben der Anderen“ es dramatisch nachzeichnet, in einem Überwachungsstaat groß geworden, der seine Bürger verwanzte, ihre Leben in Karteikästen säuberlich archivierte und Druck ausübte gegen jeden, der die sozialistische Regime-Linie gedanklich verließ. Hätte, wenn und aber, das sind die Einschränkungen, die das Leben von Ulrich Wellert gänzlich hätten verändern können.
Flucht an der Bernauer Straße
Wellert wurde in Weimar geboren. Seine Mutter wurde ein Vierteljahr lang inhaftiert, weil sie für Bekannte im Westen Dinge transportiert hatte. Nach ihrer Freilassung war für die alleinerziehende Mutter Wellert klar: Wir verlassen dieses Land. Von Weimar fuhren sie nach Erfurt, um von dort mit der sogenannten „rasenden Wildsau“, einem damals legendären Zug, nach Ost-Berlin. An der Bernauer Straße traten die beiden nahezu unbehelligt über die Grenze, und es begann eine Reise über ein Flüchtlingslager in Marienfelde, zu Verwandten in die Pfalz bis nach Hagen.
Regelmäßige Besuche in der DDR
„Ab 1967 habe ich die DDR regelmäßig besucht“, sagt Wellert, der im Westen Lokführer geworden war. Jahrelang reiste er zu seinen Verwandten. So auch vom 7. bis zum 9. November 1989. Wie immer hatte er sich eine Einreisegenehmigung besorgt. Wie immer war er mit seinem Kadett rübergefahren. „Diesmal hatte ich bei der Einreise zum ersten Mal nichts dabei, das man mir hätte wegnehmen können.“ Es war das letzte Wochenende der DDR. Und irgendwie muss es sich so angefühlt haben, als wenn das alles hier noch 100 Jahre anhält und Wellert noch 1000-mal über die Grenze rollen würde.
„Es gab am 7. November 1989 eine Demo in Weimar. Ich war beeindruckt von diesem Meer von Kerzen und der Bewegung, die da aufgekommen war.“ Tausende Menschen gingen auf die Straße. Ihr Ruf nach Freiheit, einem vereinigten Deutschland und dem Fall der Mauer hallte nicht nur durch die beiden deutschen Staaten, sondern durch die ganze Welt. „Ich habe beim Stammtisch in Weimar noch gesagt: ,Leute, so schnell geht es nicht. Es gibt keinen Knall und dann sind alle Trabis plötzlich ein Mercedes’.“ Die Trabis blieben Trabis. Schnell ging es trotzdem.
Am 9. November 1989 war Wellert auf der Heimreise nach Hagen
Am 9. November, einem Donnerstag, machte sich Ulrich Wellert wie immer gegen 14 Uhr auf die Heimreise nach Hagen. „Ich schwöre es ihnen, ich habe nichts mitbekommen“, sagt er und wirkt dabei so wie die Film-Figur Christiane Kerner (Katrin Sass), um die herum in dem Film „Good bye, Lenin“ versucht wird, die eingestürzte Welt der DDR aufrechtzuerhalten, weil sie den Schock des Mauerfalls nach längerem Koma nicht verkraften würde.
Also juckelte Wellert mit seinem Opel Kadett rund 400 Kilometer zurück nach Hagen. Als er dort ankam, stand seine Frau mit einem Gesichtsausdruck auf dem Balkon, als wäre ihr der Heilige Geist erschienen. „Die Mauer ist gefallen“, rief sie dem heimkommenden Wellert entgegen, die Mauer ist weg.“
Plötzlich war seine Heimat hinter der Mauer ein Teil des Landes, in dem er seit seinen Schritten über die Grenze an der Bernauer Straße glücklich geworden war. Wellert hatte das erlebt, all das genossen und von all dem profitieren können, wonach sich Millionen Bürger der DDR jahrelang gesehnt hatten. Kein Reichtum, keine technischen Errungenschaften. Nein. Freiheit, ein Gut, das kein Wohlstand dieser Welt dir ersetzen kann. Frei von den Fesseln eines Überwachungsstaates. Von Kontrolle. Von Druck.
Für Wellert ist viel geblieben
Was ist davon geblieben nach 25 Jahren? „So glücklich wie ich damals war, so sehr ich mich für die Menschen gefreut habe – genau die gleichen Gefühle habe ich heute. Ich glaube, es ist eine Menge von dem geblieben, was damals entfacht wurde. Vom Glück über die Freiheit. So wie es gekommen ist, ist es gut. Ich bin immer noch froh über die Wiedervereinigung.“
Bilder vom Mauerfall 1989