Ennepetal/Berlin. . Warum driftete der 21 Jahre alte Ennepetaler, der in den heiligen Krieg im Irak zog, in den militanten Islamismus ab? Daniel Köhler gibt Antworten im Interview. Er ist Familienberater bei der vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge geförderten Beratungsstelle “Hayat“ in Berlin.

Die Beratungsstelle "Hayat" in Berlin wendet sich an Eltern, Angehörige und Betroffene, die in der Auseinandersetzung mit dem Islamismus Rat und Hilfe suchen. Daniel Köhler ist Famlienberater dieser Organisation und zudem wissenschaftlicher Leiter im Institute for the Study of Radical Movements (ISRM) in Berlin. Wir sprachen mit dem Experten für Radikalismus-Ursachen.

Warum ziehen junge Menschen in den Krieg?

Daniel Köhler: Es ist eine Mischung aus positiven und negativen Aspekten. Zu letzteren zählen Konflikte in der Familie, in der Schule oder am Arbeitsplatz sowie Perspektivlosigkeit. Man erhofft sich eine schnelle Lösung der Konflikte („es wird alles besser“). Als positiv ­sehen es die jungen Menschen an, dass sie vermeintlich ihr Seelenheil finden, wenn sie Gerechtigkeit, ­Ehre und Werte verteidigen ­können. Aktiv mitwirken können, eine entsprechende Gesellschaft aufzubauen. Daneben spielen sicher Abenteuerlust und die Vorstellung, als Kämpfer zum Held zu werden, eine Rolle. Manche realisieren nicht, was sie da tun. Sie ­sehen das Ganze als eine Art Computerspiel.

Spielt die Suche nach Anerkennung auch eine Rolle?

Köhler: Diesen Aspekt sollte man nicht überbewerten. Es wäre ein Fehler, die Motive auf die Frustrations-Schiene zu schieben. Um sich zu radikalisieren, bedarf es mehr.

Daniel Köhler ist Familienberater bei
Daniel Köhler ist Familienberater bei "Hayat" in Berlin und Experte für Radikalismus-Hintergründe. © privat

Waren die jungen Dschihadisten schon vorher religiös?

Köhler: Die meisten Familien von ihnen sind zwar traditionell muslimisch, aber eher nicht praktizierend. Daher sind die ­Jugendlichen in der Regel religiöse Analphabeten. Der Großteil hat den Islam für sich komplett neu entdeckt, es gibt aber kulturelle Anknüpfungspunkte.

Wie verläuft der Weg in die nahöstlichen Krisenregionen?

Köhler: Zunächst grundsätzlich: Der Weg in den Irak führt oft über Syrien. Es gibt junge Menschen, die in Deutschland angesprochen werden, in der Türkei Trainingscamps besuchen und dann über die Grenze nach Syrien gehen. Es gibt aber auch viele Spontanreisende, die sich in einen Billigflieger in die Türkei setzen und darauf warten, dass sie von Rekrutierern aufgesammelt werden. Es sind durchaus Schleuseraktivitäten festzustellen.

Welche Motivation hat ein Selbstmordattentäter?

Köhler: Bei einigen wenigen sind es tatsächlich religiöse Gründe: „Ich komme dann ins Paradies.“ Weit verbreitet ist eine Angst vor dem Tod und der Hölle. Viele sehen den einzigen Ausweg in einem Märtyrertod: „Dann komme ich in den Himmel.“

Verfassungsschutz hat 320 deutsche Gotteskrieger im Visier 

Wie viele junge Deutsche sind in den heiligen Krieg gezogen?

Köhler: Das Bundesamt für Verfassungsschutz nennt die Zahl von 320. Inoffiziell gehen Experten von mindestens 500 aus. Die Zahl der Frauen ist deutlich gestiegen.

In welchem Alter sind die Gotteskrieger?

Köhler: Im Schnitt zwischen 20 und 23 Jahren.

Stellen Rückkehrer aus dem ­heiligen Krieg aus Ihrer Sicht eine Gefahr in Deutschland dar?

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Köhler: Da gibt es unter Experten sehr unterschiedliche Meinungen. Eine Schätzung ist zum Beispiel, dass einer von neun Rückkehrern potenziell gefährlich ist. ­Grundsätzlich ist es so, dass ­tendenziell eher diejenigen ­zurückkommen, die nicht das ­gefunden haben, was sie gesucht haben. Die sind dann schon oft traumatisiert, wenn sie zurück ­kehren. Mit denen muss gearbeitet werden, damit sie eben nicht wieder in den gleichen Kreislauf ­hineingeraten. Allzu direkte Anschlagspläne würden andererseits auch die Rekrutierungsbemühungen in Deutschland zunichte ­machen.

Wie kann verhindert werden, dass junge Deutsche zu Kämpfern im Irak und in Syrien werden?

Köhler: Ganz wichtig ist, dass sich Ange­hörige dieser Menschen so früh wie möglich bei Beratungsstellen wie zum Beispiel die „Hayat“, die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gefördert wird, ­melden. Mit den Familien ­zusammen können wir die Motive für die Radikalisierung heraus­finden und positive Alternativen aufzeichnen.