Schwelm. Sie ist tückisch, sie macht süchtig, sie ist überall zu kriegen: Die legale Droge Alkohol. Schwelmer erzählt, wie die Sucht sein Leben zerstörte.

Es sind doch nur ein oder zwei Bier. Einfach nur, um besser einzuschlafen. Tagsüber gibt es kein Bier. Lediglich am Abend. Das ist doch nichts Schlimmes. Ungefähr diese Gedanken hatte der Schwelmer Markus Schulte länger als 15 Jahre. Aus ein, zwei Bier am Abend wurden schnell fünf, sechs Stück. Aus normalem Bier wurde Starkbier. In der schlimmsten Zeit hat er bis zu drei Liter innerhalb von zwei Stunden in sich hineingekippt. Der 44-Jährige war alkoholabhängig. Heute ist er seit knapp drei Jahren trocken, hat seit mehr als 1000 Tagen die tückische und oftmals verführerische legale Droge Alkohol nie wieder angerührt. Doch die Spuren, die die Sucht hinterlassen hat, bleiben. Der Alkohol zerstörte einen Großteil seines Lebens. Markus Schulte verlor zweimal seinen Führerschein und seinen Job. Das Schlimmste aber war, dass die Lebensfreude des Schwelmers verschwand. Von den Menschen, die ihm nahe stehen, denen er und die ihm so wichtig sind, hat er sich völlig distanziert. Im Gespräch mit der Redaktion erzählt Markus Schulte seine Geschichte, spricht über seinen Weg zurück ins Leben und raus aus der Sucht.

Lesen Sie auch:

Gevelsberg: Beliebte Kult-Kneipe öffnet nach Brand wieder

Schwelm: Junge Frau erfüllt sich ihren Kindheitstraum und eröffnet Café

Tödlicher Motorradunfall: Wie kam es zu der Tragödie in Gevelsberg?

Markus Schulte kommt mit einem freundlichen Lächeln in die Redaktion, in der Hand hält er ein Notizbuch. Im ersten Moment wirkt er wie ein ganz normaler, lebensfroher Mann. Das ist er heute auch größtenteils wieder. Dennoch hat seine Vergangenheit Spuren hinterlassen.

19 Jahre zurück: Markus Schulte ist damals 25 Jahre jung. Er hat seine erste feste Freundin, einen gut bezahlten Job bei einem angesehen Unternehmen, eigentlich ist er mit seinem Leben zufrieden. Allerdings läuft es mit seiner Freundin nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. „Sie wollte eigentlich nie körperliche Nähe“, erzählt er. Abends nach Feierabend trinkt der Schwelmer daher ein oder zwei Bier. „Ich habe gemerkt, dass ich dann einfach besser einschlafen kann“, erinnert er sich. Für ihn war das nie ein Grund zur Sorge. „Tagsüber habe ich nie getrunken, ich habe auch nie auf der Arbeit getrunken oder davor und kam betrunken zur Arbeit“, erzählt Markus Schulte. „Irgendwann war es dann mit der Freundin vorbei, doch das Bier blieb.“ Und so begann der Teufelskreis.

„Ich hatte mit Schlafproblemen zu kämpfen“, sagt der 44-Jährige, während er sich durchs Gesicht streicht. Über seine Vergangenheit zu sprechen, fällt ihm teils noch schwer. Sie macht ihm zu schaffen. Sein Notizbuch hilft ihm, alles chronologisch zu ordnen, denn die vielen Ereignissen in den vergangenen Jahren haben den Schwelmer oftmals überfordert.

2017 eskaliert die Situation

Statt wegen seiner Schlafstörungen einen Arzt aufzusuchen, trinkt Markus Schulte Alkohol. „Das war meine Lösung, ich hatte eine gefunden, die hilft.“ Mittlerweile trinkt er täglich mehrere Dosen Bier. Einige Zeit später lernt er eine Frau kennen, sie werden ein Paar. „Sie lernte mich natürlich so kennen, dass ich jeden Abend was trinke“, erzählt er. Oftmals wurde sein Alkoholkonsum zum Streitauslöser. Und mit einem Streit im Jahr 2017 eskalierte die Situation dann. Markus Schultes Leben geriet aus den Fugen.

„Ich hatte damals einen Firmenwagen bekommen, da hatte ich das Gefühl, ich habe es wirklich geschafft“, blickt der Schwelmer zurück, während er immer wieder in sein Notizbuch schaut. Dass seine Sucht sein Leben so zerstört, das hätte er niemals gedacht. Sein abendliches Ritual war für ihn völlig normal. Allerdings wurde es immer schwieriger, alles unter einen Hut zu bekommen. „Wenn ich auf Geschäftsreise musste, musste ich immer abzählen, wie viele Dosen ich mitnehmen musste für die Tage und darauf achten, dass es keiner mitbekommt.“ Das Feierabendbier vorm Schlafen gehen wurde ihm immer mehr zum Verhängnis. „Irgendwann geriet ich dann auch unter Druck, wenn es spät wurde und ich wusste, ich muss jetzt noch so und so viele Dosen trinken, um zu schlafen.“

Es ist das Jahr 2017: „Ich wollte nach der Arbeit zu meiner Freundin fahren“, erzählt er. Sie hatten noch telefoniert, Markus Schulte hatte dafür auf einem Rastplatz angehalten. Und dann begann ein riesiger Streit zwischen dem Paar. „Ich hatte eine Kiste im Kofferraum, da lagen meine Dosen drin“, erzählt er. Oben drauf ein Strauß Blumen, den er eigentlich seiner Partnerin mitbringen wollte. „Während des Streits habe ich den dann weggeschmissen und angefangen zu trinken.“ Der Streit zwischen dem Paar eskalierte. „Sie wollte dann nicht mehr, dass ich komme, also setzte ich mich ins Auto, um nach Hause zu fahren.“ Und dann passierte es. Markus Schulte hatte einen Unfall. Zwar, so sagt er, war es lediglich ein Blechschaden, doch die Folgen waren immens. Die Polizei kam zur Unfallstelle, machte einen Alkoholtest. 1,9 Promille war das Ergebnis. „Da fing es natürlich an, dass sich die ersten Menschen gefragt haben, wie ich noch so normal sein kann, bei so einem hohen Wert.“ Hinzukam, dass der damalige Projektleiter seine Firma informieren musste, denn es war schließlich ein Firmenwagen. So verlor Markus Schulte nicht nur seinen Führerschein, sondern erhielt auch eine Abmahnung, musste von diesem Tag an zu all’ seinen Auswärtsterminen gefahren werden, regelmäßig Alkoholtests machen, Urinproben abgeben.

Die Situation auf der Arbeit setzte Markus Schulte unter einen enormen Leistungsdruck, hinzukamen Anschuldigungen von damaligen Kollegen sowie Diskrepanzen untereinander. Als ihm dann noch seine mit Mühe geleistete Arbeit nicht anerkannt wurde, brach alles über ihm zusammen. „Ich fiel in ein Loch.“ Markus Schulte meldete sich krank, suchte für sechs Wochen eine Tagesklinik auf, schaffte es, nicht mehr zu trinken. „Ich hatte dort das erste Mal das Gefühl, dass sich hier um mich gekümmert wird“, sagt er. Während dieser Zeit startete er zudem einen Podcast, wollte anderen alkoholkranken Menschen helfen, ihnen zeigen, dass es einen Weg raus aus der Sucht gibt. Eigentlich schien es, als würde es endlich vorangehen, als würde der Schwelmer die Kurve kriegen.

Doch als er nach seinem Aufenthalt in der Tagesklinik beschloss, ein anderes Berufsfeld einzuschlagen – in Richtung Sozialarbeiter – wendete sich das Blatt. Markus Schulte besuchte aus berufstechnischen Gründen erneut die Klinik, lernte dort eine Frau kennen. „Ich hatte das Gefühl, dass ich die Frau retten muss“, erzählt er. Sie war stark alkohol- und medikamentenabhängig, hatte Suizidgedanken. Zunächst wollte er nur helfen, doch schnell entstand eine engere Bindung – obwohl Markus Schulte noch seine andere Freundin hatte.

Erste Entzugserscheinungen

Durch die Alkoholsucht der Frau fing auch der Schwelmer wieder an zu trinken. Die Situation spitzte sich immer weiter zu. An einem Abend hatten beide einen großen Streit, die damalige Frau war bei sich daheim, mit ihrem kleinen Sohn und stark alkoholisiert. Markus Schulte alarmierte daraufhin die Polizei. Der Stress führte dazu, dass er selbst wieder viel trank. Bis heute kann er sich nicht erklären, warum er noch zu der Frau fuhr, nachdem er getrunken hatte und wusste, dass die Polizei vor Ort ist. Doch er tat es, verlor so das zweite Mal den Führerschein. Und dann ging es komplett bergab. Seinen Job hatte er mittlerweile nicht mehr, die Frau, die er retten wollte war weg, der Lappen auch – erneut.

„Ich habe immer mehr getrunken, ich konnte das Haus nicht mehr verlassen, ich war zu nichts mehr in der Lage“, sagt er. Irgendwann wachte er nachts auf, hatte Entzugserscheinungen, war hellwach. Um weiterzuschlafen und den Erscheinungen entgegenzuwirken trank er weiter – mitten in der Nacht. „Es war das Einzige, was dagegen half.“

+++ Schwelm, Gevelsberg, Ennepetal: Nichts mehr verpassen mit unserem kostenfreien Newsletter +++

Einige Zeit später kamen dann seine Eltern überraschend vorbei, da sie ihren Sohn nicht erreichen konnten. „Die sahen natürlich, wie es hier aussah“, sagt er. Überall standen Bierdosen, in der Lage aufzuräumen, sich um den Haushalt zu kümmern, war Markus Schulte nicht mehr. Und das war seine Rettung. Er kam in verschiedene Einrichtungen, auch wenn er Therapien zunächst wieder abbrach, wieder anfing zu trinken, hat er es Mitte 2020 geschafft. „Ich habe auf einmal eingesehen, dass das ein Ende haben muss.“ Im Jahr 2021 machte er eine Langzeittherapie. „Da war ich schon fast ein Jahr trocken“, sagt er und klingt ein wenig stolz. Seitdem lernt er ununterbrochen, hat sich im Jahr 2022 selbstständig gemacht. „Ich habe etwas gefunden, was mir Spaß macht.“

Die Sucht ist etwas, was Markus Schulte sein Leben lang begleiten wird, sagt er. „Ich habe heute mehr Spaß ohne Alkohol, das war früher unvorstellbar.“ Er vermeidet es nicht mal mit der legalen, tückischen Droge in Kontakt zu kommen. Im Supermarkt gehe er dort sogar mit Absicht vorbei. Dennoch sagt Schulte auch ehrlich: „Ich würde nie sagen, ,ich trinke nie wieder’“. Auch wenn er es sich fest für den Rest seines Lebens vornimmt.