Gevelsberg. Prostitution, heftigste Gewalt, Ablehnung, Mobbing – das Leben der Angeklagten aus Gevelsberg ist seit der Kindheit heftig gewesen.
Als der Psychologe im Zeugenstand über das Leben der 27-Jährigen aus Gevelsberg spricht, schluchzt diese, tupft sich die Tränen aus dem Gesicht. Schläge, Verluste, Prostitution, Mobbing, Gewalt und Ablehnung pflastern ihren Lebensweg seit der Kindheit. Dass sie schwere, komplexe psychische Probleme hat, erhärtet sich immer mehr zum Fakt. Die zentralen Fragen, auf die das Gericht noch Antworten sucht, lauten: Hat sie zwei Rettungssanitäter im schuldfähigen Zustand mit dem Tod bedroht? Und ist künftig zu erwarten, dass sie eine Gefahr für andere darstellt, oder richtet sie Gewalt vor allem gegen sich selbst?
+++ Die Tat – alle Details +++
Die Frau, die seit zwei Jahren in einer Gevelsberger Einrichtung für psychisch Kranke lebt, wird in Hagen geboren, verbringt ihre Kindheit in Hohenlimburg. Zwischen den Eltern herrscht schlimme Gewalt. Auch sie und ihr kleinerer, behinderter Bruder bekommen Schläge ab. Einmal, so erinnert sie sich in einem Gespräch mit einem Gutachter vor einigen Jahren, habe ihre Mutter sie zur Strafe gebissen, weil sie ihren Bruder gebissen habe.
Angeklagte prostituiert sich
Sie ist eher überdurchschnittlich intelligent, doch herausragenden Schulleistungen stehen ihr Probleme im Weg. Sie wird in der Schule gemobbt, wendet sich der Subkultur der Emos zu. In der Szene ist es in, sich zu ritzen. Das damals zwölfjährige Mädchen beginnt, sich selbst zu verletzen. Eine Sache, die sie bis heute begleitet. Ihre Arme sind tief vernarbt. Wenn sie schneidet, schneidet sie tief ins Fleisch, muss regelmäßig genäht werden. Ein Gevelsberger Hausarzt berichtet im Zeugenstand, dass er manchmal die alten Fäden noch gar nicht gezogen und sie schon wieder neue gehabt habe.
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Etwa zur gleichen Zeit, als sie sich den Emos zuwendet, trennen sich ihre Eltern. Zum Vater hat sie bis heute keinen Kontakt, die Mutter besucht sie regelmäßig an den Wochenenden – auch vor dem verhängnisvollen Montag, als sie mit dem Messer auf den Sanitäter zugestürmt war. Die Mutter findet einen neuen Lebenspartner – schwerer Alkoholiker. Der heiratet die Mutter schließlich, führt in der gemeinsamen Wohnung die Regel ein, dass die Kinder von Freitag, 18 Uhr, bis Sonntag, 18 Uhr, das Haus verlassen müssen. Während der kleine Bruder bei den Großeltern unterkommt – so teilt sie mit – lebt sie zwei bis drei Jahre an den Wochenenden auf der Straße und prostituiert sich. Parallel dazu hat sie ihren ersten richtigen Freund, der sie schlägt.
Droh-E-Mails an Schulen
Dennoch schafft sie ihren Realschulabschluss, schließt eine Ausbildung als Mediengestalterin ab, absolviert das Fachabitur. Gleichwohl nehmen ihre psychischen Probleme zu. Irgendwann, so berichtet sie einem Gespräch mit einem Therapeuten, habe sie die Mutter vor die Wahl gestellt. Der neue Mann oder die eigene Tochter – die Mutter entschied sich gegen ihr Kind. Dessen psychische Probleme wachsen, neben depressiven Elementen treten bald auch psychotische auf. Sie sagt, dass sie Stimmen höre, die ihr mitteilen, sie solle sich und anderen etwas antun. Sie flüchtet vor ihrer Mutter in ihre eigene Wohnung in Hagen. Doch einerseits ihr gewalttätiger Freund, andererseits das viele Alleinsein tun ihr mental nicht gut. Sie studiert zwar drei Semester in Düsseldorf Kommunikationswissenschaften, doch ansonsten zieht sie sich immer mehr von der Welt zurück.
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Im November des Jahres 2019 verfasst sie Drohbriefe und sendet sie per E-Mail an elf Hagener Schulen. Sie droht mit Bomben und Amok. „Ich weiß doch nicht einmal, wie man sowas baut“, sagt sie dem Gutachter, der sie für den jetzigen Prozess im Februar exploriert hat. Aus ihrer eigenen Wohnung zieht sie auf eigenen Wunsch in die Einrichtung nach Gevelsberg.
Immer wieder fällt sie durch suizidales Verhalten auf, kommt mehr als 20 Male während der vergangenen Jahre in verschiedene Kliniken. Manchmal kümmert sie sich selbst darum, oft sind es aber Zwangseinweisungen nach dem Psychisch-Kranken-Gesetz. Um eine Fahrt in die Klinik ging es auch an dem Tag, an dem sie auf die Rettungssanitäter losging. Aus den Zeugenaussagen ergibt sich so etwas wie ein Muster: Sie setzt Hilfeschreie ab, wehrt sich dann aber gegen ihre Helfer – wie im angeklagten Fall die Rettungssanitäter.
Gutachten wird erwartet
Bereits am zweiten Prozesstag wird deutlich, dass es für die 27-jährige wohl mit größter Wahrscheinlichkeit in diesem Verfahren, in dem die Staatsanwaltschaft ihr versuchten Totschlag vorwirft, darum gehen wird, dass sie dauerhaft in eine geschlossene Klinik kommt. Deshalb wird vor allem das Gutachten von Professor Pedro Faustmann mit Spannung erwartet, denn er befindet über ihre Schuldfähigkeit.
So geht es weiter
Die Verhandlung vor dem Hagener Schwurgericht um die Vorsitzende Richterin Heike Hartmann-Garschagen wird am Freitag, 2. Dezember, fortgesetzt.
Das psychiatrische Gutachten über die 27-Jährige wird Prof. Dr. Pedro Faustmann aller Voraussicht nach am Dienstag, 6. Dezember, verlesen.
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