Gevelsberg. Nervenaufreibende Flucht aus der Ukraine: „So wie mein Hass gegenüber Russland entstanden ist, kam meine Liebe zu den Deutschen auf.“
„Ich war in der ganzen Welt unterwegs. Ich hatte ein schönes Leben“, sagt Olga Dovbush. Die Augen der 57-Jährigen sind ganz rot. Sie hat geweint. Und auch jetzt – während sie an ihr altes Leben zurückdenkt – kommen ihr wieder die Tränen.
Dovbush stammt aus der Ukraine. Aus Charkiw, um genau zu sein. Das liegt circa 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Der 24. Februar 2022 ist das Datum, an dem ihr altes Leben endete. Ein Donnerstag. In Europa und der Welt werden Medien und Politik von einer Zeitenwende sprechen. Olga Dovbush erlebt aber ihre ganz persönliche Zeitenwende. Auf ihr Zuhause fliegen plötzlich die Raketen.
Als sie davon erzählt, sitzt sie 2307 Kilometer von Charkiw entfernt, in Gevelsberg. Mit dabei ist die 42-jährige Nataliia Kosova, eine Familienangehörige von Olga Dovbush. Gemeinsam mit Kosovas beiden Söhnen (elf und sieben Jahre alt), sind die Frauen aus ihrer Heimat nach Deutschland geflohen. Den Weg dorthin beschwerlich zu nennen, wäre eine Untertreibung.
An Geräusch der Raketen gewöhnt
„Hörst Du auch, was ich gerade höre?“, fragt Olga Dovbush ihren Neffen am Telefon, als der Beschuss auf Charkiw beginnt. „Das ist kein Feuerwerk“, antwortet er. „Putin hat den Krieg erklärt.“ Bis dahin betreibt die 57-Jährige ein Dessous-Geschäft. „Mein erster Gedanke war, dass ich meine Dokumente aus dem Laden holen muss, um Schaden zu vermeiden“, erinnert sich Dovbush. Sie geht noch davon aus, dass bald alles vorbei ist und das normale Leben weitergeht.
Stattdessen gewöhnt die Ukrainerin sich an die Geräuschkulisse. „Wenn ich hörte, dass eine Rakete losfliegt, habe ich bis zwölf gezählt. Dann wusste ich, dass ich versteckt sein muss. Dann explodierte die Rakete“, erklärt sie. Sie lebt in einem neunstöckigen Mehrfamilienhaus außerhalb des Stadtzentrums. Nachts flüchtet sie in den Haus- oder ihren Wohnungsflur. An Schlaf ist nicht mehr zu denken.
Zwischenzeitlich gibt es für vier Tage weder Strom noch Wasser. Der ÖPNV in der Stadt funktioniert nicht mehr. Lebensmittelgeschäfte haben geschlossen, Apotheken auch. Um Brot zu kriegen, geht Olga Dovbush mehrere Kilometer zu Fuß. „Ohne zu wissen, ob ich wieder nach Hause komme“, sagt sie. Auf einem dieser langen Fußwege hat sie ein Schlüsselerlebnis, wie sie sagt. „Ich musste mal durch ein Stadion laufen zu einem Supermarkt. Auf einmal hängt ein russischer Hubschrauber über mir in der Luft“, weiß sie noch. „Das einzige Gefühl, das ich da hatte, war Machtlosigkeit.“ Danach spürt sie das erste Mal Hass. „Es gab keinen Grund auf die Ukraine loszugehen“, macht sie ihrer Wut Luft.
Vor Krieg noch in Urlaub gewesen
Zehn Tage später verlässt Olga Dovbush Charkiw, nimmt ihre 92-jährige und eigentlich bettlägerige Tante mit ins knapp 150 Kilometer weiter westlich gelegene Poltawa. Ein Zurück nach Charkiw gibt es nicht mehr. „Das ukrainische Militär hatte die Stadt aus Sicherheitsgründen abgeriegelt“, erklärt Dovbush. In Poltawa trifft sie schließlich auch Nataliia Kosova, die Schwägerin ihres Neffen.
Die 42-Jährige kommt auch aus Charkiw, arbeitet bei einer Bank in einer guten Position, wie sie sagt. Als der Beschuss auf ihre Stadt beginnt, ist sie gerade auf Geschäftsreise in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Dort hört sie von den Angriffen. Ihre beiden Söhne und ihr Mann sind zu dieser Zeit zuhause in Charkiw. Sofort will Kosova zurück. Der Zug fährt aber tagelang nicht, sie übernachtet am U-Bahnhof. In Poltawa findet sie später jemanden, der sie mit dem Auto nach Charkiw fährt. Die Soldaten lassen sie nur ihrer Kinder wegen in die Stadt. „Ihr müsst aber ganz langsam fahren, sonst werdet ihr beschossen“, wird sie gewarnt. Ihre Wohnung betritt sie schon gar nicht mehr. Kosova packt nur ihre Kinder ein und verlässt die Stadt.
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„Wenn mir jemand vor einem Jahr gesagt hätte, dass ich jetzt in Gevelsberg sitze und jemandem diese Geschichte erzähle….“, sagt die 42-Jährige. Sie hätte es nicht glauben können. Zu stark ist der Kontrast zu dem normalen Leben, das sie vorher gelebt hat. Kurz vor dem Krieg war sie sogar noch im Urlaub auf den Kanaren.
Sechs-Tage-Reise nach Gevelsberg
Wochen später steht sie mit Olga Dovbush an einem Bahnhof in Poltawa und wartet auf einen Evakuierungszug, der sie aus ihrem Heimatland bringen soll. „Wir haben drüber gesprochen, wie es weitergehen soll“, blickt Olga Dovbush zurück. Sie war sich sicher, dass Russland die ganze Ukraine angreifen wird. Aus der Vergangenheit wusste sie noch, dass es von Dortmund in Deutschland aus eine günstige Flugverbindung in die Ukraine gab. Also sollte Deutschland das Ziel sein. Falls sie mal schnell zurück muss.
So machen sich die Frauen mit den beiden Kindern in einem völlig überfüllten Zug auf den Weg. Schon beim Einstieg wären sie beinahe getrennt worden, hätten sich fast verloren im Chaos. Der Zug ist so voll, dass Nataliia Kosova 13 Stunden auf einem Bein stehen muss. Die Fenster sollen geschlossen und verdunkelt bleiben. Angehalten wird nur, wenn irgendwo geschossen wird. Während der wenigen Stopps reichen Helfer Wasser in den Zug. Mehr als ein bisschen Verpflegung und ihre Papiere haben Dovbush, Kosova und ihre Söhne nicht dabei, an Kleidung nur das, was sie am Körper tragen.
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So gelangen sie in ein Flüchtlingslager in Ungarn. Ein junger Mann fährt die Vier nach Budapest. Hier holt eine Freundin von Nataliia Kosova sie ab und bringt sie nach München, wo die Freundin schon vor dem Krieg lebte. Auf privatem Wege entsteht schließlich der Kontakt nach Gevelsberg, wo Jacqueline Bröking Wohnungen an Geflüchtete vermittelt. Kosovas Freundin fährt sie mit dem Auto dorthin. Am 12. März 2022 kommen sie dort an. Nachdem sie sechs Tage unterwegs waren.
Ein möglichst normales Leben
Jacqueline Bröking besorgt ihnen zunächst eine Ferienwohnung, organisiert Kleidung oder auch Spielzeug, hilft bei Angelegenheiten mit Behörden. Mittlerweile leben Olga Dovbush und Nataliia Kosova mit ihren Söhnen in getrennten Wohnungen in Gevelsberg. Die beiden Jungs besuchen eine Grund- und eine weiterführende Schule. Dovbush und Kosova gehen in einen Integrationskurs und lernen Deutsch. Die Ukrainerinnen sind trotz aller Widrigkeiten – zum Beispiel mit der deutschen Bürokratie – sehr dankbar. „So wie mein Hass gegenüber Russland entstanden ist, kam meine Liebe zu den Deutschen auf“, sagt Olga Dovbush.
Außerdem: Ukraine: Beim Wiedersehen mit Freundin fließen die Tränen
Solange wie es nötig ist, wollen sie nun bleiben und ein möglichst normales Leben leben. „Wir sind qualifiziert und wollen uns hier auch einbringen“, sagt Nataliia Kosova. „Wir hoffen, dass die deutsche Gesellschaft das auch annehmen möchte.“
Ihre Wünsche für die Zukunft? Schwieriges Thema. Olga Dovbush fühlt sich, als würde sie in der Luft hängen. Sie weiß, dass ihr Dessous-Geschäft einem Raketen-Angriff zum Opfer gefallen ist. Das Gleiche gilt für Nataliia Kosovas Wohnung. Ihre Angehörigen sind noch in der Ukraine. Kosovas Mann darf nicht ausreisen, er versorgt das ukrainische Militär mit Lebensmitteln. Gerne hätten beide Frauen ihre Familie bei sich. Olga Dovbush bringt es abschließend auf den Punkt: „Mein Wunsch wäre, mein Leben vor dem Krieg in der Ukraine weiterleben zu können. Mir hat es gefallen in Charkiw.“