Gevelsberg. Im Fall der Richterin aus Gevelsberg, die selbst angeklagt ist, haben die Kollegen ein sympathisches und fachlich kompetentes Bild gezeichnet.

Warum? Und warum auf diese Weise? Die Antworten auf die Fragen könnten ein Muster aufzeigen, einen rational nachvollziehbaren Grund, einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Taten. Doch der Fall der Gevelsberger Richterin, die ein Protokoll gefälscht, eine Akte falsch einsortiert und diverse Rückdatierungen bei Urteilen vorgenommen haben soll, bleibt an vielen Stellen ein Mysterium. Auch nachdem sich die zuständige Kammer um den Vorsitzenden Richter Christian Potthast akribisch im Rahmen der Hauptverhandlung durch das Behördendickicht des Lüdenscheider Amtsgericht kämpft, zeichnet sich noch kein klares Bild ab. Dafür ergeben sich immer mehr Nebenkriegsschauplätze.

Die Durchsuchung

Vollkommen unterschiedliche Auffassungen haben Gericht und Verteidigung zu den Umständen, wie der schwerwiegendste Teil der Anklage zustande gekommen ist. Denn: Die Direktorin des Amtsgerichts in Lüdenscheid und deren Stellvertreterin hatten eine Seite des ursprünglichen Protokolls, das die Gevelsbergerin nachträglich gefälscht haben soll, in deren Dienstzimmer gefunden, während die 37-Jährige bereits krank geschrieben war. Die Verteidigung will erwirken, dass dies als Beweismittel nicht zulässig ist und argumentiert: Aus ihrer Sicht stelle die Durchsuchung des Büros der Richterin einen Verstoß gegen deren Persönlichkeitsrecht dar. Nur die Dienstaufsicht, die beim Präsidenten des Landgerichts Hagen liegt, habe schließlich das Recht zu derlei Maßnahmen. Folge: Die Durchsuchung sei rechtswidrig erfolgt. Daher widerspricht der Verteidiger auch der Vernehmung sämtlicher Zeugen zu diesem Punkt. Der Grund liegt auf der Hand: Dies ist das schwerste Vergehen. Sollten die Beweise dafür nicht zulässig sein, würde dies die potenzielle Strafe bei einer Verurteilung abmildern.

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Christian Potthast vertritt hingegen die Auffassung: Es hat keine Durchsuchung stattgefunden. Die Behördenleitung sei lediglich in das Dienstzimmer gegangen, um die Akten aus diesem zu holen, die durch die Krankheit der Richterin nicht bearbeitet würden, um diese den Kollegen zu geben. Gestützt wird dies durch die Aussage der Vize-Chefin des Amtsgerichts: „Wir brauchten einen Überblick über die Fälle, um sie den entsprechenden Vertretungen zu geben.“ Das Büro sei in einem ausgesprochen chaotischen Zustand gewesen, so dass ihnen das Protokoll zufällig in die Hände gefallen sei.

Die Kollegen

Egal, ob die stellvertretende Direktorin des Amtsgericht, die Mitarbeiterin der Geschäftsstelle für Familiensachen, oder der Mitarbeiter für Strafrechtsfälle – alle zeichneten ein ähnliches Bild der Gevelsbergerin: sehr sympathisch, fachlich kompetent, nett, zuvorkommend, allseits beliebt, im Kollegenkreis voll integriert und sehr geschätzt für ihre Arbeit und ihre Art. Wären da nicht immer wieder diese Einzelfälle gewesen. Zwischen unzähligen schnell und vorbildlich bearbeiteten Akten tauchten immer und immer wieder Fälle auf, die seit Monaten liegen geblieben waren. Der Erste, der sich ernste Sorgen machte, war der Mann, der in der Geschäftsstelle für die Strafsachen zuständig ist. „Ich habe sie angesprochen, weil sie immer öfter Fristen nicht eingehalten hat, doch sie hat immer nur gesagt: ,Mach Dir keine Sorgen“, sagte er vor Gericht, bevor ihm sichtlich berührt die Tränen in die Augen steigen. „Ich habe die Kollegen ins Boot geholt und gesagt: ,Das explodiert hier irgendwann.’ Ich habe das kommen sehen.“

Am meisten habe ihn mitgenommen, dass er davon ausgeht, dass die Gevelsbergerin eine Akte in ein falsches Fach einsortiert habe, um ihm die Schuld für ihr Versäumnis in die Schuhe zu schieben. Vier Monate war die Akte von der Bildfläche verschwunden, Friste sind gerissen worden. Der Mitarbeiter macht deutlich: „Das gibt es nicht, dass eine Akte so lange in diesem Fach liegt. Das wird zweimal pro Woche komplett durchforstet.“ Er hatte den Fall angezeigt und maßgeblich dafür gesorgt, dass die ganze Sache ans Rollen kam. Zuvor, so betont er im Zeugenstand, habe er ein „sehr sehr freundschaftliches Verhältnis“ zu der 37-Jährigen gehabt.

Der Oberamtsanwalt

Eine ganz spannende Rolle nimmt ein Oberamtsanwalt in dem Fall ein, der mittlerweile pensioniert ist und der bereits einmal im Zeugenstand saß, nun unbedingt noch einmal vernommen werden wollte. Er vertrat die anklagende Staatsanwaltschaft in dem Fall des gefälschten Protokolls. Dort soll die Richterin laut aktueller Anklage einen Mann in dessen Abwesenheit verurteilt haben, obwohl dies laut Strafprozessordnung unzulässig gewesen sei. Dieser Fehler sei ihr im Nachgang aufgefallen, dies sei der Grund für die Fälschung des Protokolls. Der Oberamtsanwalt ließ im Zeugenstand die damalige Verhandlung noch einmal Revue passieren und kam zu dem Schluss: „Nach einer kurzen Beratung waren wir sicher, dass wir weiterverhandeln konnten.“ Er verwies auf eine Änderung der Strafprozessordnung Ende des Jahres 2018. In der alten Version - die zum Zeitpunkt des Prozesses galt – wäre alles korrekt gelaufen bei dem Urteil gegen den Mann. Sollte die Angeklagte am Ende ein Protokoll gefälscht haben, in dem sich überhaupt kein Fehler befand und so den schwerwiegendsten Fall selbst als Panne kreiert haben? Auch auf diese Frage sucht die Kammer eine Antwort. Noch verbleiben einige Prozesstage, um die Puzzlestücke zusammenzufügen und vielleicht auch eine Antwort auf die Frage nach dem „Warum“ zu finden.