Gevelsberg/Lüdenscheid. Eine Richterin aus Gevelsberg soll jahrelang Akten nicht bearbeitet und Urteile zu spät verfasst haben. Ab Dienstag steht sie selbst vor Gericht.

Viele Jahre hat sie Recht gesprochen, darüber befunden, ob Menschen sich gesetzeskonform verhalten haben, und sie gegebenenfalls schwer bestraft. Nun sitzt eine Gevelsberger Richterin bald selbst auf dem Anklagestuhl – und die Vorwürfe gegen sie wiegen schwer.

Sie muss sich ab Dienstag, 5. Oktober, dafür verantworten, dass sie Protokolle gefälscht, straf- und familienrechtliche Fälle nicht bearbeitet, Urteile nicht verfasst und Akten bei sich zu Hause versteckt haben soll. Der Jurist nennt das Rechtsbeugung, Verwahrungsbruch und Urkundenfälschung.

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Vier Jahre lang soll die 37-Jährige – wohl aus Überforderung wie ein Gutachter feststellte – in 14 Fällen ihre richterlichen Pflichten verletzt und im Fortgang versucht haben, ihre Fehler zu vertuschen. In einigen Fällen soll dies nicht nur das Vertrauen in den Rechtsstaat ins Wanken gebracht haben, sie soll auch negative Folgen für Angeklagte, Verurteilte und Eltern verursacht haben, bei denen sie in den Jahren von 2016 bis 2020 über Familiensachen befunden hatte.

Fehler der Geschäftsstelle vorgetäuscht

So soll sie beispielsweise einen Angeklagten in dessen Abwesenheit verurteilt haben, obwohl dafür die rechtlichen Voraussetzungen fehlten. Laut Anklage soll sie – nachdem ihr dieser offenbar versehentliche Fehler aufgefallen war – Protokolle geändert haben, um darüber hinwegzutäuschen. In mehreren Fällen soll sie Urteile nicht fristgerecht oder gar nicht verfasst haben.

Zur Erklärung: Sind die Fristen nicht eingehalten, würde bei einer Revision das Urteil aufgehoben. Um daher Verspätungen zu verschleiern, soll sie Urteile zurückdatiert haben. In einem Fall soll die Richterin versucht haben, einen Fehler der Geschäftsstelle des Gerichts vorzutäuschen, indem sie Akten in ein falsches Fach gelegt haben soll.

In neun Fällen geht die anklagende Staatsanwaltschaft davon aus, dass die Gevelsbergerin die Fälle ab einem bestimmten Zeitpunkt gar nicht mehr weiterbearbeitet hat. Statt dessen soll sie die Akten mit nach Hause genommen und in einem Umzugskarton in ihrem Keller verstaut haben. Dort fand die Polizei diese Akten bei einer späteren Hausdurchsuchung, nachdem in anderen Prozessen aufgefallen war, dass Urteile der Amtsrichterin nicht aufzufinden waren.

Sorgerechtsentscheidung ignoriert

Neben den neun strafrechtlichen Sachen, bei denen die Richterin zumeist Geldstrafen ausgesprochen, in einem Fall aber auch einen Haftbefehl wieder in Vollzug gesetzt hatte, befanden sich unter den Fällen auch fünf familienrechtliche. Hier soll sie unter anderem in einer Verhandlung der Mutter von zwei Kindern das Aufenthaltsbestimmungsrecht entzogen haben. Trotz der deswegen gebotenen Eile soll sie die Sache nicht weiter bearbeitet haben. Liegen geblieben sein soll unter anderem auch eine Sorgerechtsentscheidung.

„Der Angeklagten droht für den Fall einer Verurteilung für jeden Fall der Rechtsbeugung in der Regel eine Freiheitsstrafe von ein bis fünf Jahren und für die schwerste angeklagte Tat aufgrund der Urkundenfälschung unter Missbrauch ihrer Amtsstellung und Befugnisse eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren“, sagt Bernhard Kuchler, Pressesprecher des Landgerichts Hagen.

Staatsanwaltschaft sieht volle Schuldfähigkeit

Die Gevelsbergerin ist nicht vorbestraft, auf freiem Fuß und seit Bekanntwerden der Vorwürfe dienstunfähig geschrieben. „Die Anklage sieht keinen Grund für die Annahme einer verminderten Schuldfähigkeit bei der Angeschuldigten, diese Frage soll jedoch im Verfahren einer gutachterlichen Überprüfung unterzogen werden“, teilt Bernhard Kuchler mit. Für das Verfahren sind zunächst elf Verhandlungstage vorgesehen.

Sollte der aktuelle Zeitplan eingehalten werden, spricht die 6. große Strafkammer des Landgerichts Hagen ihr mögliches Urteil gegen die Frau am 12. November dieses Jahres. Auch wenn sie nicht ins Gefängnis geht, steht zur Debatte, ob die Juristin jemals wieder in das Richteramt beziehungsweise in den Staatsdienst zurückkehren darf.

Strafverfahren könnten wieder aufgenommen werden

Anklage hat in diesem Fall die Staatsanwaltschaft Bochum erhoben.Der Fall wird vor der sechsten großen Strafkammer des Hagener Landgerichts verhandelt. Zu vier der elf Verhandlungstage sind auch Zeugen zur Vernehmung geladen.

Für die von der vorgeworfenen Rechtsbeugung betroffenen Strafverfahren gilt: Auch nach Rechtskraft des Urteils kann eine Wiederaufnahme des Verfahrens durchgeführt werden, wenn bei dem Urteil ein Richter mitgewirkt hat, der sich in der Sache einer strafbaren Verletzung seiner Amtspflichten schuldig gemacht hat.