Wenden/Altenhof. Maria Rasche will die letzte Gedenkstätte ihres im Krieg gefallenen Bruders unbedingt finden – dafür geht sie mit dem Wohnmobil auf Weltreise.

Die Altenhoferin Maria Rasche hat vor kurzem ihren 90. Geburtstag im Beisein der Familie gefeiert – die vierfache Mutter blickt auf ein bewegtes Leben voller Schicksalsschläge zurück – mit Bildern im Kopf, die sie ihren Lebtag nicht vergessen wird. Ihre frühe Kindheit mitten im Krieg prägt sie noch heute und lässt sie niemals vergessen, was das Wichtigste in ihrem Leben ist.

Krieg stellt Leben auf den Kopf

Maria Rasche, geboren Alfes, kommt am 5. August 1933 in Altenhof auf die Welt und wird in einem behüteten Umfeld groß, doch der Zweite Weltkrieg stellt ihr Leben auf den Kopf. Ihr Vater Josef wird zum Militärdienst einberufen und nur wenige Wochen nachdem sich Alfes im Krieg befindet, stirbt Mutter Dina Alfes an den Folgen einer Blutvergiftung. Der Tod der damals 39-Jährigen kommt völlig aus dem Nichts und schockt die komplette Familie.

Während ihr Vater auf dem Schlachtfeld für die Zukunft seiner Familie kämpft, geht es auch in Altenhofen ums reine Überleben. Völlig allein gelassen, muss sich die erst 6 Jahre alte Maria, gemeinsam mit ihren älteren Brüdern, um die erst einjährige Schwester Christel kümmern. Trotz des plötzlichen Tods ihrer Mutter werden Vater Josef nur drei Tage Heimaturlaub von der Front gewährt. Ein Umstand, den vor allem die Gemeinde Wenden böse aufstößt. Der damalige Bürgermeister Josef Wurm setzt sich mit dem Wendener Pfarrer Krewet lautstark für die Rückkehr des jungen Vaters ein. Und das mit durchschlagendem Erfolg. Nur drei Wochen nach der neuerlichen Abreise aus Altenhof kann die junge Familie vorerst durchatmen und Josef darf dauerhaft zurückkehren.

Onkel gibt Obdach

Für die Übergangszeit zieht es die 6-jährige Maria gemeinsam mit ihrer Schwester ins benachbarte Haus „Althusen“ zu ihrem Onkel Eduard Schneider. Rasche erinnert sich: „Die drei ältesten blieben zuhause und ich wurde in die Landwirtschaft eingeteilt.“ Schon früh versucht sie sich an landwirtschaftlichen Arbeiten, weiß genau, was an der Dreschmaschine oder in der Mühle alles gemacht werden muss. Onkel Eduard hat dabei trotz seiner zehn Kinder ein besonders sorgsames Auge auf die zwei Schwestern. „Der Eduard hat sich sehr um mich bemüht, ich war schon behütet“, erzählt die vierfache Mutter.

Auch nach der Rückkehr ihres Vaters kommt die junge Familie nicht zur Ruhe. Im Jahr 1942 ereilt Marias Familie mit dem Tod ihrer erst vierjährigen Schwester der nächste Schicksalsschlag. In der Folge einer Seuche im Wendener Umland war ihre Schwester an Diphtherie erkrankt und konnte sich davon nicht mehr erholen. Ein Tiefschlag für die ganze Familie: „Ich weiß wirklich nicht, wie ich damit umgehen konnte. Es war ein Riesenschock, meine Schwester sterben zu sehen“, ringt Maria Rasche auch heute noch nach Worten.

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Versteckspiel auf dem eigenen Dachboden

Noch im selben Jahr werden ihre Brüder Tonis und Ewald in die Armee eingezogen – ihr erst 16-jähriger Bruder Josef folgt. Was Maria Rasche nicht weiß: Josef hält es nach kurzer Zeit beim Militärdienst nicht aus und flüchtet aus seinem Lager in Brilon. Nach mehrwöchigem Marsch schafft er es tatsächlich zurück nach Altenhof. Als gesuchter Deserteur bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich vor Suchkommandos zu verstecken. Vater Josef handelt schnell und bringt ihn auf dem hauseigenen Dachboden unter – ohne, dass irgendjemand anderes aus der Familie davon Wind bekommt. Tagsüber versteckt sich ihr Bruder mitten im Wald – erst abends landet er wieder auf dem Dachboden. „Wir mussten ihn auf dem Dachboden verstecken. Ich bin froh, dass ich es nicht wusste. Wenn er gefunden worden wäre, wäre er erschossen worden“, betont die 90-Jährige.

Während Josef auf dem Dachboden überlebt, fallen Tonis und Ewald dem Krieg zum Opfer. Tonis stirbt 1944 in Frankreich, Ewald 1945 auf lettischen Boden. Für die junge Maria bricht abermals eine Welt zusammen: „Wir bekamen die Nachricht, dass seine Leiche von einem Bauern gefunden wurde“, kann sich Rasche noch genau erinnern. Nach all den Schicksalsschlägen während des Krieges bleibt vor allem der Zusammenhalt in der Familie. „Die Familie ist alles. Wir sind während des Krieges noch mehr zusammengerückt“, betont sie.

Keine Zeit zum Verarbeiten

Zeit, das Geschehene richtig zu verarbeiten, hat Rasche auch nach dem Krieg keine. Nachdem ihre drei Brüder das Anwesen in Altenhof verlassen, kümmert sie sich weiter um die Landwirtschaft ihres Vaters und arbeitet nebenher auch noch in einer Strickerei. Maria Rasche dazu: „Ich habe mir damals felsenfest vorgenommen. Ich lasse Papa nicht allein.“

1956 heiratet sie ihren Mann Erwin Rasche und baut sich auf dem eigenen Anwesen eine gemeinsame Hühnerfarm mit 3800 Hühnern auf. Das Geschäftskonzept funktioniert, Aufträge gehen ein und die Anlage wird auch außerhalb der Region bekannt. Bis ins hohe Alter (70) fährt Maria Rasche die Eier selbst zu ihren Kunden aus, doch zu viele neue Auflagen aus der Politik, lassen ihr keine andere Wahl, als das Geschäft schweren Herzens aufzugeben.

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Ehrenamtliches Engagement bis ins tiefste Rentenalter

Dafür engagiert sie sich bis ins tiefste Rentenalter umso mehr im Vereinsleben. Als Frauenvertreterin des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge Wenden (VDK) setzt sie sich für die Grabmalpflege der gefallenen Soldaten während des Zweiten Weltkriegs ein und mahnt gleichzeitig dazu, nicht zu vergessen. Bis heute sucht sie mit ihren Söhnen und Enkeln nach der tatsächlichen Grabstätte ihres Bruders Ewald. Erst 2019 geht sie mit 86 Jahren auf Weltreise und fährt ins Kurland, doch ein Grab lässt sich nicht auffinden, dafür aber das eines Wendener Mitbürgers. „Wir sind da mit dem Wohnmobil hin. Ich blieb vor dem Grab stehen und dachte mir nur „Fränzchen“ bist du das?“, findet sie zufällig das Grab vom gefallenen Nachbarn Franz Müller. Erst 2018 tritt Rasche von ihrer Funktion ab, die vielen tollen Begegnungen mit anderen Hinterbliebenen will sie nicht missen: „Ich habe immer viel Kraft getankt, wenn ich über die VDK ältere und kranke Menschen besuchen konnte.“

Krieg habe aus ihrer Sicht noch nie etwas außer Leid gebracht: „Es dreht sich immer nur um ein paar Quadratmeter Land, dabei sind Kriege noch nie auf dem Schlachtfeld entschieden worden, sondern am Verhandlungstisch“, vertritt sie ihre klare Meinung. Mit Blick auf Auseinandersetzungen in der Ukraine, im Nahen Osten und die großen Herausforderungen der Zeit hofft sie für ihre Familie inständig, dass sich Geschichte nicht wiederholt. „Ich habe keine Angst um mich, sondern nur um meine Kinder, Enkel und Urenkel.“

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