Arnsberg. Der AK Dorfgeschichte Voßwinkel hat in Akten zu den Verbrechen der Nazis geforscht. Wichtige Erkenntnisse für den gesamten HSK
Drei Jahre Recherche waren nötig. Michael Filthaut und seine Mitstreiter vom Arbeitskreis Dorfgeschichte Voßwinkel haben unzählige Telefonate geführt, E-Mail-Anfragen verschickt, Archive besucht und Nachforschungen angestellt. Gegenstand dieser Recherchen waren acht dokumentierte Fälle von Menschen aus Voßwinkel, die im Rahmen des Euthanasie- und Sterilisationsverfahren der Nationalsozialisten gegen ihren Willen unfruchtbar gemacht wurden, weil sie der Rassenideologie der selbsternannten „Herrenmenschen“ zum Opfer fielen.
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„Wir haben durch Zufall erfahren, dass sich im Landesarchiv Münster 70 Akten zu Menschen aus Voßwinkel aus dieser Zeit befinden. Es handelt sich zum Teil um Anträge zur Eheschließung und dem Erhalt von Kindergeld, aber eben auch um konkrete Dokumentationen der Verfahren zur Zwangssterilisation. Da wie bekannt im Zweiten Weltkrieg unzählige dieser und vieler weitere Akten zu den Taten der Nationalsozialisten vernichtet wurden, handelt es sich hierbei um einen Zufallsfund.“ In der 33. Ausgabe der „Voßwinkeler Rückblicke“ wurden die Einzelheiten anschaulich und ausführlich skizziert.
Akten der Kreisgesundheitsämter
Die Recherche der Mitglieder des Arbeitskreises Dorfgeschichte Voßwinkel bekam unlängst eine neue Dynamik, weil die Leiterin des Archivs des Hochsauerlandkreises, Susi Frank, weitere Akten zum Thema „Erbgesundheit“ fand. Die Dokumente umfassen Daten aus den zum damaligen Zeitpunkt eigenständigen Kreisgesundheitsämtern Arnsberg, Brilon und Meschede.
In zum Teil aus heutiger Sicht erschreckender bürokratischer Genauigkeit wird in den Akten nachgewiesen, woher die Opfer stammten, welche vermeintlichen Erbkrankheiten bei ihnen diagnostiziert wurden und wie das jeweilige verfahren endete.
„Eine der häufigsten Diagnosen hieß damals sogenannter angeborener Schwachsinn“, erklärt Archivarin Susi Frank. „Archive sind Orte für Kulturgut. Unsere Aufgabe besteht darin, diese Dokumente so zu lagern, dass sie für die Wissenschaft zugänglich sind. Die ersten Erkenntnisse, die aus den Unterlagen gezogen werden konnten, zeigen deutlich, dass kleinere Orte und Gemeinde von dem Programm der Nazis genauso betroffen waren, wie die Großstädte“, erklärt die Expertin.
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1933 hatten die Nationalsozialisten das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses verabschiedet. Ab 1934 wurden Erbgesundheitsgerichte eingerichtet. Diese wurden überall dort installiert, wo Amtsgerichte ihren Sitz bei Landgerichten hatten. Das Erbgesundheitsgericht Arnsberg war zuständig für einen Landgerichtsbezirk mit insgesamt 13 Amtsgerichten, zu denen auch Brilon und Meschede gehörten.
Von 1934 bis 1945 kam es zu 2629 dokumentierten Verfahren. 2106 Menschen wurden zur Unfruchtbarmachung verurteilt. Systematisch hatten die Kreisgesundheitsämter Familien durchleuchtet, staatliche Leistungen wurden geprüft.
Operationen im Arnsberger Marienhospital
Der Forschergruppe gelang es auch herauszufinden, dass die Sterilisationen für Männer und Frauen in unterschiedlichen Kliniken stattfanden. Als einziges Krankenhaus aus dem HSK fungierte das Arnsberger Marienhospital. Alleine für den damaligen Kreis Arnsberg sind 116 Fälle von Sterilisationen von Männern in der Klinik dokumentiert. Federführend soll nach Angaben der Forschenden in diesem Prozess Chefarzt Dr. Clemens Einhaus gewesen sein. „Wie viele Männer aus anderen Kreisen von ihm operiert wurden, ist uns bislang nicht bekannt“, erklärt Michael Filthaut.
Bei den Recherchen ist herausgekommen, dass die Dokumentation der Verfahren recht unterschiedlich gehandhabt wurden. Die Informationen zu Brilon und Meschede sind weitaus weniger detailliert als die aus Arnsberg.
Aus Brilon weiß man, dass 489 „Erkranke“ in einem Verfahren verhandelt wurden. Letztlich wurden 386 davon sterilisiert. Im Kreis Meschede waren 136 von ursprünglich 160 betroffen.
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Die Arnsberger dagegen haben so pedantisch Buch geführt, dass man hier sogar die Fälle einzelnen Ortschaften und Dörfern zuordnen kann. 303 Menschen aus diesem Bezirk wurde die Möglichkeit zur Fortpflanzung genommen. Neheim (55), Arnsberg (51) und Hüsten (33) haben die meisten Sterilisationen zwischen 1934 und 1945 zu verzeichnen.
Provinzialheilanstalt Warstein
Außerdem wurden auch die vermeintlichen „Erbkrankheiten“ aufgelistet. Neben dem bereits erwähnten angeborenen Schwachsinn sind es beispielsweise Schizophrenie, erbliche Fallsucht und erbliche Taubheit. „Es ist erschreckend, wie menschenverachtend die Maßnahmen waren“, betont Filthaut. „Die aus Sicht der Nazis besonders schweren Fällen, die in Kliniken behandelt und betreut werden mussten, wurden im Euthanasieprogramm ermordet.“ Von der Provinzialheilanstalt Warstein, die während der NS-Zeit zum Kreis Arnsberg gehörte, wurden die Opfer in andere Anstalten verlegt, wo sie umgebracht wurden.
Noch seien die Forschungen nicht abgeschlossen, bekräftigt der Arbeitskreis Dorfgeschichte Voßwinkel. Zum Beispiel sei es zu klären, wie die Familien von den Sterilisationen betroffen waren. Dr. Ulrike Schowe, Leiterin des Sauerlandmuseums in Arnsberg, ist jedoch bereits jetzt von den Ergebnissen begeistert: „Wir greifen das Thema in unserer Dauerausstellung auf. Ein Blick auf Täter und Opfer ist aus meiner Sicht sehr wichtig. Generell ist es ein sehr wichtiges Thema für die Geschichtsforschung!“