Oeventrop. Marius Schaefer ist der Erste in Europa, der Lungenlappen seiner Eltern bekam. Sie schenkten ihm erneut das Leben. Das ist seine Geschichte.
„Als meine Schwester das Krankenzimmer betrat, habe ich über beide Backen gestrahlt“, sagt Marius Schaefer (22), „sie hat mir mein Lächeln zurückgegeben. Meine Schwester schenkte mir Lebensfreude.“ Erstmals hat der damals 11-jährige Marius in seinem neuen Leben ein Ziel: Nämlich nach Hause zu kommen, um mit Nele spielen zu können. Spaß zu haben, Quatsch zu machen. Eben das, was Kinder so tun. Das, was vor der lebensrettenden Operation nicht möglich war.
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Marius ist gerade einmal eineinhalb Jahre alt, als die Lungenkrankheit „Mukoviszidose“ diagnostiziert wird. „Normalerweise ist der Schleim in der Lunge eher milchig-flüssig“, erklärt er, „bei mir war er zähflüssig wie Honig.“ Dadurch kann Marius schlecht atmen, bekommt kaum Luft. Regelmäßig muss er inhalieren und die verschiedensten Therapien vollziehen. Seine Kindheit ist nicht wie die der anderen. „Während andere um zwanzig vor Acht aufstanden, um dann um acht Uhr in der Schule zu sein, begann mein Tag um 5.45 Uhr, um die morgendlichen Therapien durchzuziehen.“
Marius lebt diszipliniert, hält sich an Therapieplan und Absprachen. Und das bereits im Grundschulalter. „Ich wusste halt, worum es geht!“ Er möchte kein Sauerstoffgerät in der Schule tragen. Möchte nicht auffallen. „Ich wollte so sein wie jeder andere auch.“
Oeventroper Junge muss immer wieder in die Klinik
Zum Ende der Grundschulzeit jedoch verschlechtert sich sein Krankheitszustand. Die Lungenfunktion lässt immer mehr nach. Krankenhausaufenthalte häufen sich. Antibiotische Therapien, Infusionen und unterstützende Beatmungsgeräte gehören zum Alltag. „Das war für mich halt immer so das Schlimmste, weil ich in meine Klasse gehen wollte - zu meinen Freunden, halt dazu gehören.“
Doch all dies ist nicht mehr möglich. Sein Zustand verschlechtert sich mehr und mehr. Bis er auf die Warteliste für eine Lungenspende gesetzt wird. Inzwischen besucht er das Mariengymnasium. Eigentlich. Denn die Lungentherapie schlägt nicht an. Es zeigt sich keine Verbesserung. „Der Verschlechterungsprozess wurde nur verlangsamt“. Nun soll er auch mit einem Sauerstoffgerät in die Schule gehen. „Aber das wollte ich nicht. Ich wollte nicht auffallen. Kinder können sehr gemein sein!“
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Während die anderen Kinder auf dem Spielplatz toben, ihre Zeit genießen, ihr Leben leben und die Welt entdecken, muss Marius sich mit dem Tod auseinandersetzen. Mit elf Jahren. Er ist geschockt, stimmt der Lungentransplantation jedoch direkt zu. „Ich war immer sehr positiv gestimmt und ich hatte auch keine Zweifel, dass es klappt“, sagt er, „ich freute mich auch darauf, denn ich wollte endlich das Leben haben, wovon ich immer träumte. Eine normale Kindheit.“ So auch seine Eltern.
Oeventrop/Hannover: Lebendorganspende bis dahin unbekannt
Sein Vater erkundigt sich im Internet zur Thematik und stößt auf ein Verfahren, das so bislang nur in den USA und in Asien vollzogen wurde: Die Lebendlungenspende. Kurzerhand fragen sie den Arzt. Doch dieser lehnt ab, verweist darauf, dass dies in Europa (und Deutschland) absolut unbekanntes Terrain sei – und dass niemand wirklich Erfahrung darin habe. Marius bleibt auf der Warteliste, rutscht nach ganz oben. Wartet, wartet und wartet. Ohne Erfolg.
Die Eltern legen sich zwei Extra-Handys zu – die Nummern erhalten nur die offiziellen Institutionen. Wenn eines dieser Telefone klingelt, muss es schnell gehen. Dann gibt es eine Lunge. Einmal ist dies der Fall. Das Handy der Mutter klingelt, als sie gerade Pizza holt. Sie lässt sie fallen und fährt ins Krankenhaus. Letztendlich stellt sich heraus, dass sich nur jemand verwählt hat. Eine Zerreißprobe für Eltern und Sohn.
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Seine Schwester Nele, zu dem Zeitpunkt etwa sieben Jahre alt, versuchen sie so weit wie möglich von diesem Schicksal fernzuhalten. Sie weiß, dass ihr großer Bruder krank ist, erfährt jedoch keine Einzelheiten. Und vor allem nichts davon, was in der folgenden Zeit passieren soll. Denn plötzlich rückt die Idee der Lebendlungenspende wieder in den Fokus – diesmal ausgehend vom Arzt. Denn Marius geht es immer schlechter.
Marius Schaefer wird ins künstliche Koma versetzt
Am Freitag, den 13., wird er nach Hannover auf die Kinder-Intensivstation verlegt. Rund einen Tag später ins künstliche Koma versetzt und an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen. Denn selbst atmen kann er nun gar nicht mehr. Die Eltern wollen ihre Lungenlappen spenden. Jetzt. Die formelle Tortur beginnt. Denn „einfach so“ geht das Ganze nicht. Die Eltern müssen sich den unterschiedlichsten Untersuchungen unterziehen, auch psychologische Gutachten werden erstellt.
„Eine der wichtigsten Voraussetzungen ist die übereinstimmende Blutgruppe“, sagt Marius, „wir haben zum Glück alle die gleiche Blutgruppe, sonst wäre das Thema direkt durch gewesen.“ Am Ende setzt sich eine Sonderkommission der Ärzteschaft zusammen. Entscheidet darüber, ob Marius die Lungenlappen seiner Eltern bekommen darf oder nicht. Sie stimmt zu. „Das war auch nötig, denn mittlerweile diagnostizierte man mir den Tod innerhalb der nächsten 48 Stunden.“
Von all diesem bekommt Marius nichts mit – auch der Klinikclown, der ihn immer wieder besucht, nimmt er nicht wahr. „Ich habe nichts mitbekommen“, so Marius, „gar nichts!“ Seinen Eltern geht es ab jetzt nicht mehr um sich selbst. Sie treffen sogar Vorsorge, was Tochter Nele betrifft. Denn schließlich setzen auch sie sich einer großen Gefahr aus. „Das zeigt schon sehr eindeutig, wie großartig die beiden gedacht und gehandelt haben und was das auch für eine extreme Situation ist, dass man das Leben seines Kindes über das eigene stellt. Also das ist schon ein sehr, sehr großer Ausdruck von Liebe mir gegenüber“.
Endlich kann er selbstständig atmen
Marius erinnert sich nicht an all das, was während seines Komas abläuft. Auch, wie es seinen Eltern nach den Operationen geht, bekommt er nicht mit. Aber sie raufen sich zusammen. Das Gefühl, nachdem er aus dem künstlichen Koma geholt wird, vergisst er nie. „Ich konnte atmen“, sagt er, „das war toll! Alles verlief gut – und ich konnte endlich selbstständig atmen. Ein unglaubliches Gefühl.“ Als er dann jedoch erfährt, wer ihm die lebensrettenden Lungenlappen spendete, ist er stolz, demütig und dankbar zu gleich. „Das ist nicht üblich, dass man das Leben eines anderen über sein eigenes stellt.“ Noch heute ist seine Dankbarkeit spürbar.
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Seine Eltern schenkten ihm erneut das Leben. Er kann atmen. Aber sonst kann er nichts mehr. Seine gesamte Muskulatur bildet sich während des etwa dreiwöchigen Komas zurück. Er ist schwach. Kann nicht einmal ein Glas heben. „Ich fiel in ein Loch. Endlich konnte ich Luft holen, aber sonst konnte ich nichts mehr. Musste alles neu erlernen“, sagt er, „das war mir zu viel. Ich habe mich völlig zurückgezogen, nicht mehr gelacht.“ Nichts kann ihn aufmuntern.
Bis seine Ärztin plötzlich auf eine Idee kommt: Seine Schwester Nele soll ihn besuchen. Kurzerhand sorgen die Eltern dafür, dass sie von Freunden ins Krankenhaus gebracht wird. Als sie das Krankenzimmer betritt, grinst Marius über beide Backen. „Ich wusste jetzt, wofür ich kämpfen musste – und tat es“. Jeden Tag trainiert er. Es beginnt mit kleinen PET-Flaschen, die er greifen und heben muss. Bis er wieder einen Schritt machen kann.
„Das war am 10. Juli“, sagt er, „ich weiß das so genau, weil es der Tag vor dem Geburtstag meiner Mutter ist.“ Er kämpft sich zurück ins Leben und kann nach insgesamt gut 18 Monaten auch wieder die Schule besuchen. „Ich habe schon da Maske getragen, nicht erst zur Corona-Zeit“, sagt er und lacht.
Oeventroper Marius Schaefer studiert Lehramt Sonderpädagogik
Auch hier hängt er sich rein. Macht sein Abitur und studiert aktuell im ersten Master-Semester das sonderpädagogische Lehramt. Heute spielt er Tennis, unterrichtet sogar Kinder und Jugendliche. Er führt ein normales Leben – bis auf die Tatsache, dass er seine Erfahrungen und seine Geschichte nutzt, um auf die katastrophale Situation der Organspenden in Deutschland hinzuweisen. „Meine Eltern haben mich vorher vor dem ganzen Medienrummel geschützt“, sagt er, „früher als Kind fand ich das blöd – wäre ja cool gewesen. Heute verstehe ich das und finde es gut.“
Drei Wege zur Organspende
1. Organspendeausweis bei sich tragen: Dies stellt keine rechtsverbindliche Einwilligung dar. Im Ernstfall entscheiden die verbliebenen Angehörigen.
2. Tattoo: Das Tattoo, ins Leben gerufen von „Junge Helden e.V.“, zeigt Notfallteam und Angehörigen, dass Sie sich dafür entschieden haben, Organspender zu werden. Rechtssicher ist diese Variante allerdings auch nicht – Ihre Angehörigen müssen entscheiden.
3. Die beste Variante: Patientenverfügung. Mit dieser legen Sie vorab fest, wie Sie im Fall der Fälle behandelt werden möchten und, ob Sie Organe spenden möchten oder nicht.
Informationen: junge-helden.org Allgemeine Infos zur Organspende: www.organspende-info.de
Als Teil des Vereins „Junge Helden e.V.“ versucht er jedoch seit seinem 18. Lebensjahr Menschen zu animieren, sich einen Spenderausweis zuzulegen – denn in Deutschland sterben jeden Tag drei Menschen, weil sie keine Organspende erhalten. Er geht in Schulen, erzählt seine Geschichte und hält Vorträge über die Wichtigkeit, sich mit dem Thema Organspende auseinanderzusetzen.
„Ich möchte niemanden dazu zwingen, sich als Organspender auszuweisen – ich möchte nur aufklären.“Kurz und knapp bringt er es auf den Punkt: „Wenn meine Eltern sich nicht so spontan für diese Lebendorganspende entschieden hätten, wäre ich innerhalb von zwei Tagen tot gewesen!“
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