Neheim. Autor Titus Müller hat 2013 die Möhnekatastrophe zur zentralen Geschichte seines Romans „Nachauge“ gemacht. Wir haben mit ihm darüber gesprochen

Autor Titus Müller hat in seinem 2013 erschienenen Roman „Nachtauge“ die Umstände der Möhnekatastrophe literarisch aufgegriffen. Am 20. Mai kommt er nach Neheim, um in der Stadtbibliothek aus seinem Buch vorzulesen. Unsere Zeitung hat mit dem 46-Jährigen über dieses Werk, die Recherchen und seine Leidenschaft für geschichtliche Themen gesprochen.

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Herr Müller, auf Ihrer Internetseite haben Sie geschrieben, dass Sie Sammler, Stauner und Entdecker sind. Was haben Sie bei Ihrem letzten Besuch in Arnsberg gesammelt? Worüber haben Sie gestaunt und was neu entdeckt?

Ich habe mit Freunden bei Mirko am Brunnen ein Eis gegessen – großartiges Eis! – und wir sprachen über einen jahrelangen Auslandsaufenthalt, den jemand aus unserer Runde erlebt hat. Diese fremde Sicht auf die Welt hat mich fasziniert. Ich habe durch das Erzählte das eigene Leben mit anderen Augen gesehen. Ich liebe es, über das vermeintlich Vertraute zu staunen.

Autor Titus Müller.
Autor Titus Müller. © Privat

In Ihrem 2013 erschienen Roman „Nachtauge“ spielt die Möhnekatastrophe eine zentrale Rolle. Wie kommt ein Autor auf die Idee, dieses Thema aufzugreifen? Ich würde behaupten, dass außerhalb des Sauerlands nur wenige Menschen hiervon überhaupt jemals gehört haben.

Wirklich, denken Sie? Ich bin damals beim Lesen darauf gestoßen und mir hat sich gleich das Herz zusammengezogen. Die dramatischen Umstände haben mich gepackt, natürlich, aber vor allem die Schicksale der Menschen damals.

Können Sie uns einmal skizzieren, wie Sie in der Recherche zu diesem Buch vorgegangen sind?

Eines der ersten Bücher, die ich zu dem Thema las, war der hervorragende Band „Wasserkrieg“ von Helmuth Euler. Dort packte mich die Bemerkung über den Aufseher des Barackenlagers auf den Möhnewiesen, Karl Josef Stüppardt, und die Zwangsarbeiterin Elena Wolkowa, denen es gelang, ihre Liebe geheim zu halten. Dass die beiden die Bombardierung der Möhnetalsperre überlebt haben und der Gestapo entgehen konnten, und schließlich am 16. Juni 1945 in der Neheimer Pfarrkirche Sankt Johannes Baptist geheiratet haben, fünf Wochen und vier Tage nach Kriegsende, hat mich berührt.

Ich habe versucht, ihre Kinder ausfindig zu machen, und an verschiedenen Stellen nachgefragt, aber habe zu früh aufgegeben. Erst Barbara Ellermeier, eine Recherchefachfrau, die mir half, hat die Töchter gefunden. Da hatte ich den Roman bereits geschrieben. Ich war nervös, ich wusste nicht, was sie davon halten würden. Zu meiner großen Freude haben sie den Roman – der ja wirklich ein Roman ist, nicht die Biografie ihrer Eltern – ins Herz geschlossen. Wir haben uns seitdem immer wieder getroffen und ausgetauscht und freuen uns, dass wir uns durch diese Geschichte kennenlernen konnten.

Franz Josef Schulte und der Heimatbund Neheim Hüsten e. V. waren mir ebenfalls eine große Hilfe. Und ich bekam damals einen Dachbodenfund zur Verfügung gestellt, siebzig Jahre alte Schulhefte. Darin zu lesen hat mich erschüttert. Den Kindern wurde im Erdkundeunterricht weisgemacht, die Ungerechtigkeit auf der Welt sei nur mittels eines Krieges auszugleichen. Die Schülerin Elfriede H. schrieb in ihr Heft, ein großes Volk brauche Raum. Das sei mit der Ostpolitik zu klären. Gleichzeitig wurden fremde Rassen als Bedrohung der eigenen Rasse hingestellt, die man im „Geburtenkrieg“ besiegen und gegen die man sich mit allen Mitteln zur Wehr setzen müsse.

Der Umgang mit den ukrainischen und russischen Zwangsarbeiterinnen passte da ins Bild. Gerechtigkeit oder Mitleid gab es in Nazideutschland nur noch für Mitglieder der sogenannten „Volksgemeinschaft“, während Juden oder Slawen ohne schlechtes Gewissen misshandelt wurden.

Vortrag mit Bildern zur Möhnekatastrophe in Arnsberg>>>

Was hat Sie dabei am meisten überrascht?

Dass der kriegsversehrte Wachmann Robert mit einer Zange den Drahtzaun des Barackenlagers geöffnet hat, als sich die Flutwelle näherte. Er hat damit Dutzenden Zwangsarbeiterinnen das Leben gerettet. Er selbst ertrank. An einem solchen Beweis von Menschlichkeit und Mitgefühl richtet man sich auf. Es gab damals auch noch Menschen mit Gewissen, die sich einen Blick für die anderen bewahrt hatten.

Kurz nachdem die Talsperre zerstörte, begannen bereits die Wiederaufbauarbeiten.
Kurz nachdem die Talsperre zerstörte, begannen bereits die Wiederaufbauarbeiten. © Ruhrverband

Bis heute ist nicht restlos aufgeklärt, wie viele Menschen wirklich durch die Flutwelle ums Leben gekommen sind. Macht das die Hintergründe der Geschichte besonders interessant und regt zu Spekulationen an?

Es geht ja nicht um Zahlen, sondern um persönliche Schicksale. Erst mit diesen persönlichen Schicksalen wird uns bewusst, was der Krieg und was die Möhnekatastrophe bedeutet haben. Eindrücklich demonstriert fand ich das im Projekt „Opfer der Möhnewiesen“ von Astrid Breuer und Arnsberger Schülerinnen und Schülern.

Einige Historiker loben die Details der Katastrophe und der örtlichen Gegebenheiten, die Sie im Buch erwähnt haben. Freut man sich als Autor in solchen Fällen ganz besonders?

Natürlich bin ich froh, wenn ich keine allzu groben Schnitzer gemacht habe.

Ausstellung zur Möhnekatastrophe in Neheim>>>

Betrachten Sie Orte und Regionen, die in Ihren Büchern eine Rolle spielen, nach der Veröffentlichung mit anderen Augen?

Das geschieht unweigerlich. Die Möhnetalsperre zum Beispiel ist ja an sich schon beeindruckend. Wenn man sich mit 1943 beschäftigt, sucht man aber unvermittelt nach Spuren der Schäden von damals und sieht vor sich, wie das Wasser ins Tal stürzte und immer größere Stücke aus der Mauer brachen.

Viele Ihrer Bücher behandeln historische Themen. Was fasziniert Sie an der Reise in die Vergangenheit am meisten?

Mich verblüfft immer wieder, wie schnell wir Dinge vergessen. Für die aktuelle Trilogie um eine BND-Spionin in der DDR habe ich mich viel mit dem Alltag damals beschäftigt und mich auch selbst – ich bin DDR-Kind – an manches erinnert, das in mir verschüttet gewesen ist. Wieso ist diese ganze Zeit so weit weggerückt? Der Luxus unseres Alltags ist uns selbstverständlich geworden, dabei ist er es gar nicht.

Sie kommen nun am 20. Mai nach Neheim, um dort in der Stadtbibliothek aus Ihrem Roman „Nachtauge“ vorzulesen. Was für Erwartungen haben Sie an Ihre Rückkehr nach Neheim? Worauf freuen Sie sich?

Auf das Wiedersehen mit den Freunden, die ich in Neheim gewonnen habe.

Was gefällt Ihnen an solchen Lesungen vor Publikum am meisten?

Ich staune immer, dass sich Erwachsene dafür Zeit nehmen, und bin dankbar dafür.

Der Autor:

Titus Müller wurde 1977 in Leipzig geboren. Er studierte später in Berlin Literatur, Geschichtswissenschaften und Publizistik. Bereits im Alter von 21 Jahren gründete Titus Müller die Literaturzeitschrift „Federwelt“.

Mittlerweile lebt das Mitglied des sogenannten PEN-Clubs mit seiner Familie in Bayern. Im Laufe der Zeit erhielt Müller Auszeichnungen wie den Sir-Walter-Scott-Preis. Mit seinem Roman „Die fremde Spionin“ schaffte er es 2016 sogar auf die Spiegel-Bestsellerliste.

Der Roman „Nachtauge“ über die Möhnekatastrophe ist unter der ISBN-Nummer 9783896674586 im Buchhandel erhältlich.

Titus Müller liest am Samstag, 20. Mai, ab 19 Uhr aus diesem Buch in der Stadtbibliothek Neheim, in der Marktpassage am Neheimer Markt 2. Tickets für die Lesung gibt es an allen Standorten der Stadtbibliothek Arnsberg für den ermäßigten Preis von 10 Euro oder zum regulären Preis von 12 Euro.