Neheim. Kenner der Weltpolitik: Am Montagabend spricht Sigmar Gabriel beim „Dämmerschoppen“ der Sparkasse Arnsberg/Sundern über veränderte Machtachsen.
Der ehemalige SPD-Bundesvorsitzende und frühere Bundesaußen-, umwelt und auch wirtschaftsminister Sigmar Gabriel ist am Montagabend zu Gast beim „Dämmerschoppen“ der Sparkasse Arnsberg/Sundern im Neheimer Kaiserhaus. In der bis auf den letzten Platz gefüllten Veranstaltungsstätte spricht der 63-Jährige aus aktuellem Anlass und den verschiedenen Krisenherden auf dem Globus über „Die neue Welt-Unordnung“.
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Gabriel spricht in seiner gewohnt analytisch-scharfsinnigen Art „die Verschiebung der Machtachsen“ an. China und Russland würden neue Rollen in der geopolitischen Politik einnehmen, die sogenannte „Dritte Welt“ würde zunehmend ihr Mitspracherecht einfordern. In dieser Phase gelte es, so Gabriel, das Weltgeschehen einzuordnen.
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Der „Dämmerschoppen“ der Sparkasse Arnsberg/Sundern war keine öffentliche Veranstaltung. Das Geldinstitut lud Kundengruppen zum Vortrag ein. Zum letzten Mal begrüßte Michael Sittig als Vorstand der Sparkasse Arnsberg/Sundern die Gäste des „Dämmerschoppens“. Er tritt bekanntlich in den kommenden Tagen in den Ruhestand.
Sigmar Gabriel, der inzwischen als Publizist, Berater und gefragter Referent unterwegs ist, gilt immer noch als ein politisches Schwergewicht. In den vergangenen Wochen waren von diesen weitere im Raum Arnsberg/Sundern aufgetreten. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) sprach beim CDU-Grünkohlessen in Sundern, während Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) als Vorsitzende des Bundesverteidigungsausschusses beim Rollmopsessen der Arnsberger FDP sprach.
Der Vortrag im Kaiserhaus
Vizekanzler, Bundesminister für Umwelt, Bundesaußenminister, Ministerpräsident von Niedersachsen und Vater von drei Töchtern. Sigmar Gabriels Vita zeigt einen Mann mit selten viel Erfahrung und großer Expertise in puncto Konflikt- und Problembewältigung. Bis zuletzt 2020 war der Sozialdemokrat Mitglied der Bundesregierung, als „Rentner“, wie er sich schmunzelnd selbst bezeichnet, hält er jetzt unter anderem Vorträge zum aktuellen Weltgeschehen. So auch am Montag beim von der Sparkasse Arnsberg-Sundern initiierten „Dämmerschoppen“.
Mit einem normalen Ruhestand hat Sigmar Gabriels Leben jedoch kaum etwas gemein, das zeigt auch der lebhafte Abend im Kaiserhaus in Neheim. Dass ein Politiker dieses Kalibers überhaupt seinen Weg nach Arnsberg gefunden hat, ist der lokalen roten Bank und ihrer jährlichen Informationsveranstaltung für ihre Kunden zu verdanken. Matthias Brägas, Pressesprecher der Sparkasse vor Ort, erklärt, wieso Sigmar Gabriel am Montagabend gerade im Sauerland als Redner auftritt- vor allem auch vor dem Hintergrund, dass sich viele der Aussagen des Vizekanzlers a.D. an die gesamte europäische Öffentlichkeit und darüber hinaus richten: „Beim Dämmerschoppen laden wir Kunden zu wichtigen Ereignissen ein. Dabei geht es darum zu zeigen, was die Welt gerade herumtreibt und wie wir das aktuelle Geschehen einordnen können. Aus akutem Anlass dreht sich der Vortrag heute vorrangig um China. Mit Sigmar Gabriel können wir uns dabei auf einen absoluten Experten und Fachmann freuen!”.
Und tatsächlich sitzen am Montagabend auch Kunden im Publikum, die im Besonderen vom aktuellen Weltgeschehen betroffen sind - auch auf dem Markt. Einige der Besucher pflegen beruflich enge Beziehungen in den südostasiatischen Raum. Welche Rolle dieser in der neuen Weltordnung spielt und wo Deutschland sich verorten muss, erklärt daher der erfahrene Diplomat.„Die alte Ordnung gibt es nicht mehr, und eine neue hat sich noch nicht herausgebildet“, leitet Gabriel seinen Vortrag mit deutlichen Worten ein, „Und als Konsequenz daraus fehlt es unserer Welt an Kontinuität, Sicherheiten und Frieden“. Eindeutig spürbar seien diese Faktoren auch in Deutschland spätestens seit dem russisch-ukrainischen Krieg und der daraus resultierenden Energiekrise und Inflation. Die Ursprünge für die geopolitischen Veränderungen der letzten Jahre lägen jedoch schon länger zurück: „Der Krieg ist weniger Auslösung als Resultat der Zeitenwende“.
Ursachensuche schon im alten Jahrhundert
In seiner Erklärung der heutigen Weltunordnung setzt Gabriel in den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts an. Die gewohnten Nachkriegsstrukturen, die Einteilung der Welt in Ost und West, seien hier verloren gegangen- und nicht nur das. Gleichzeitig mit der abnehmenden Relevanz Russlands im internationalen Weltgeschehen habe sich eine neue hegemoniale Stellung Chinas herauskristallisiert. Als Folge dieser Entwicklung haben sich, so Gabriel, die USA aus ihrer Rolle als Weltpolizist zurückgezogen, um ihre Kräfte auf den Wirtschaftskampf mit der Volksrepublik zu bündeln. „Dann verläuft die Geschichte wie im Western. Wenn der Sheriff die Mainstreet verlässt, kommen die Gangster. Wir Deutsche haben lange Zeit mehr Zurückhaltung der Staaten gefordert, müssen jetzt aber auch die Verantwortung übernehmen, mit den Folgen zu leben“.
Die Entwicklungen auf der Nordhalbkugel seien zudem ein Faktor, der im Gesamtkontext geopolitischen Geschehens immer mehr an Bedeutung verliere. „Als ich geboren bin, lebten zirka zweieinhalb Milliarden Menschen auf dieser Welt. Die Achse zwischen Europa und den USA stellten dabei 30 Prozent der Gesamtbevölkerung. Heute sind es acht Milliarden Menschen und das alte Gravitätszentrum macht nur noch ein Zehntel aus“. Die Verschiebungen in den Bevölkerungsverhältnissen würden ebenfalls Verschiebungen im Selbstverständnis der ehemaligen dritten Welt herbeiführen. Mehr als 60 Prozent der globalen finanziellen Erträge werden im indopazifischen Raum erwirtschaftet. „Wir dürfen unsere eigene Stellung in der Welt deshalb nicht überschätzen. Wir sind 82 Millionen Deutsche, da fällt es schwer, 1,4 Milliarden Chinesen die Welt erklären zu wollen. Am wichtigsten ist es, erst die Position der anderen nachzuvollziehen“.
Sigmar Gabriel zeigt am Montagabend eine Welt auf, die ungeordnet ist, die ihre alten Muster verloren hat und vor der Aufgabe steht, neue Strukturen zu bilden. In die Lücken ehemaliger Machtinhaber dringen gerade Imperialisten und Autokraten vor, dennoch kann der Genosse Optimismus bewahren. „Die Geschichte dieses Landes hat gezeigt, was für großartige Entwicklungen Menschen herbeirufen können. Es hat nicht einmal eine Generation gedauert, bis sich die Deutschen von Auschwitz nach Brüssel, vom NS-Regime zum EU-Mitgliedsstaat transformierten. Mit dieser Hoffnung und Risikobereitschaft müssen wir auch den heutigen Konflikten entgegentreten“.
Es müssen sich, so Gabriel abschließend, nur die Menschen finden, die das Grandiose bewerkstelligen. Damit hat er bei seinem Publikum wohl einen Nerv getroffen, denn an Gabriels fundierte und energische Ausführungen folgt kräftiger Applaus und Zustimmung der zirka 300 Anwesenden