Arnsberg/Sundern. Oft sind Vermisstenfälle ausbüchsende Jugendliche und Kinder. Welche Gründe es dafür gibt, erklärt Psychologin Martina Regniet von der Familienberatung:

Immer wieder reißen Kinder und Jugendliche aus, laufen von Zuhause oder ihrem gewohnten Umfeld weg. Erst in der vergangenen Woche ist ein 14-jähriges Mädchen aus Arnsberg, das in einer Jugendwohngruppe lebt, vermisst und von der Polizei gesucht worden. Normalerweise tauchen Kinder und Jugendliche innerhalb kürzester Zeit wieder auf, weiß auch Diplom-Psychologin Martina Regniet, von der SkF-Familien- und Schulberatungsstelle Sundern.

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Welche Gründe das Ausreißen von Jungen und Mädchen hat, welche Rolle die Familie dabei spielt und wie die Familienberatung dann aktiv wird, erklärt die Psychologin im Gespräch mit dieser Zeitung.

Beratungsstelle vermittelt und schlichtet

„Wir als Beratungsstelle kommen in der Regel erst damit in Kontakt, wenn das Kind wieder zurück ist. Dann melden sich häufig die Eltern bei uns, um ein gemeinsames Gespräch zu führen“, erklärt Martina Regniet. Besonders aufwühlend sei die Situation natürlich für die Eltern eines vermissten Kindes. Im gemeinsamen Gespräch soll das Kind oder der Jugendliche dann zunächst die Beweggründe erklären. Diese seien vielseitig und immer individuell zu bewerten. „Jedes Kind reagiert unterschiedlich. Für einen wäre etwas bereits ein Grund, um abzuhauen, bei dem anderen nicht“, so Regniet.

Was fast alle Fälle gemein haben ist, dass es im Vorfeld einen auslösenden, eskalierenden Konflikt gegeben hat. Das kann ein Streit sein oder auch eine Trennung der Eltern, dem das Kind entfliehen möchte. „Ein Schwerpunkt da zu setzten ist schwer. Ich erinnere mich an einen Fall, bei dem ein Mädchen sich mit jemanden treffen wollte, den sie aus dem Internet kannte. Die Eltern wollten das nicht. Das Mädchen ist trotzdem gegangen“, erzählt Martina Regniet.

Das Austesten von Grenzen und Regeln spielt in der Pubertät und im Jugendalter eine besondere Rolle: „Die Jugendlichen stellen die eigene Autonomie über die Regeln der Eltern. Mit dem Abhauen soll oft auch Druck auf die Eltern ausgeübt werden.“ Zudem werde die Angst der Eltern um das Kind oftmals explizit vonseiten des Kindes provoziert und gewollt ausgelöst, so Regniet.

Gegenseitiges Verständnis wichtig

In dem gemeinsamen Gespräch sei es dann besonders wichtig, gegenseitiges Verständnis zu zeigen und sich zuzuhören. „Jeder wird angehört und darf seine Sicht auf die Situation nennen. Dann wird gemeinsam nach Lösungswegen gesucht“, erzählt die Psychologin.

Vermisstes Mädchen aus Arnsberg aufgefunden

Das vermisst gemeldete Mädchen aus Arnsberg ist wohlbehalten von der Polizei gefunden worden.

Weil es keine Hinweise auf eine Fremd- oder Eigengefährdung der Jugendlichen gegeben hatte, hat die Polizei nur die Öffentlichkeitsfahndung als Maßnahme genutzt.

Gibt es bei einem Vermisstenfall solche Hinweise, kann die Polizei weitere Maßnahmen wie das Einsetzen einer Hundertschaft zur Suche einleiten.

Laut Statistik gab es im Jahr 2020 14.614 vermisste Kinder bis einschließlich 13 Jahr, davon wurden 97,3 Prozent wieder aufgefunden. Die Anzahl der vermissten 14- bis 17-Jährigen belief sich auf 73.701, wovon 97,9 Prozent wieder aufgefunden wurden.

Ein Blick auf die eigene Jugend bei den Eltern oder ein Hineinversetzten in Mutter und Vater vonseiten der Kinder, ist dabei oft hilfreich. Oftmals sei es den Jugendlichen zudem auch nicht bewusst, in welche Gefahr sie sich bringen, wenn sie von Zuhause abhauen. All das werde im gemeinsamen Beratungsgespräch thematisiert. „Da kann auch schnell mal die Post abgehen. Dann ist es unsere Aufgabe, zu beruhigen.“ Ein großer Vorteil bei der Familienberatung ist es, dass das Gespräch in einer neutralen Atmosphäre in den Räumen der Beratungsstelle mit einer neutralen Person geführt wird und nicht in den schon vom Streit aufgeheizten eigenen vier Wänden. „Wir haben einen neutralen Blick und fassen die beiden Sichtweisen nochmals zusammen. Das hilft, jeweils die Sicht des anderen zu verstehen“, sagt Martina Regniet.

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Ganz klar und deutlich wird allerdings auch gesagt, dass das Weglaufen von Zuhause keine Lösung ist. „Streit gehört zum Leben dazu. Wichtig dabei ist darüber zu sprechen und eine gemeinsame Lösung zu finden. Die Familie muss eine gute Streitkultur entwickeln“, erklärt die Expertin. Das Ausbüchsen von Zuhause sei demnach ein Zeichen dafür, dass innerhalb der Familie keine gute Streitkultur herrsche.

Ein besonderer Fall sei es zudem, wenn der Jugendliche in einer Wohngruppe lebe. Dann habe das Mädchen oder der Junge oftmals bereits viele schwere, gescheiterte Beziehungen hinter sich und generell weniger Vertrauen in andere. „Kinder in Wohnheimen haben andere Voraussetzungen und eine andere Autonomie. Sie verlassen sich eher auf sich selbst und für sie ist es schwerer Konflikte auszuhalten“, meint Regniet. Wahrscheinlicher ist es da also, dass sich den Regeln der Wohngruppe widersetzt wird.

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