Medebach. Nachdem ein Polizeieinsatz in Winterberg eskalierte und ein Polizist verletzt wurde, kommt es zu einem überraschenden Gerichtsurteil
Am vergangenen Donnerstag (6. März) entschied das Amtsgericht Medebach vorläufig, das Verfahren gegen einen 24-jährigen Angeklagten wegen einer Messerattacke auf einen Polizeibeamten in Winterberg einzustellen. Der arbeitslose Pole, der in Handschellen aus der Justizvollzugsanstalt Hamm vorgeführt wurde, wurde unter Auflagen sofort freigelassen. Die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft, vertreten durch die Rechtsreferendarin Denise Flügge, waren schwerwiegend.
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Angeklagter will sich entschuldigen
In einem Apartment des Avital Hotels in der Kapellenstraße im vergangenen Oktober soll der Mann lauthals randaliert haben. Als zwei Polizeibeamte dort eintrafen, habe er, laut Anklage, durch den geöffneten Spalt einer Badezimmertür mit einem Butterfly-Messer einen 22-jährigen Polizisten an der Stirn verletzt.
Der Angeklagte, vertreten durch den Briloner Rechtsanwalt Oliver Brock, erklärte, dass er sich nicht an den Stich erinnern könne und bestritt, randaliert zu haben. Er gab jedoch zu, eine große Menge an Amphetaminen und Marihuana konsumiert und zum Zeitpunkt des Vorfalls bereits 48 Stunden wach gewesen zu sein. Als die Polizeibeamten klopften, entschied er sich, nicht zu reagieren, aus Angst, dass ihm jemand Böses wolle. Verteidiger Brock sagte, dass sein Mandant angeblich nicht realisierte, dass es sich um Polizisten handelte, und aus purer Angst so gewalttätig mit einem Messer reagiert habe. Der Angeklagte wandte sich über seine Dolmetscherin direkt an das Gericht und betonte: „Ich wollte niemanden verletzen.“ Dabei wirkte der Mann mit den bubihaften Gesichtszügen eingeschüchtert und verzweifelt. Die lange Untersuchungshaft hatte offensichtlich Spuren bei dem 24-Jährigen hinterlassen. Er beabsichtige, sich bei dem Polizisten für seine Tat zu entschuldigen, erklärte er.
Blut tropfte auf den Boden
Der 22-jährige Polizeikommissar aus Winterberg machte bei seiner Aussage deutlich, wie ihn der Messerstich noch immer beeinträchtige. Im Winterberger Krankenhaus habe man bei ihm eine Einzentimeter lange Schnittwunde an der Stirn kleben müssen. Er selbst habe sich aufgrund schwerer Kopfschmerzen vier Tage lang krankschreiben lassen. Immer wieder werde er nun an die Tat erinnert, wenn er in den Spiegel blicke. Denn die Narbe würde für immer bleiben. Zudem hätten ihn wochenlange Schlafstörungen geplagt. „Immer wenn ich jetzt im Einsatz vor einer geschlossenen Türe stehe, geht mir diese Geschichte natürlich durch den Kopf“, sagte er.
Dass der Angeklagte ein Butterflymesser einsetzen würde, kam für die beiden Beamte überraschend. Dass er von der Klinge getroffen wurde und das Blut auf den Boden tropfte, habe er erst realisiert, nachdem man den 24-Jährigen zu Boden gebracht und gefesselt habe. Dieser habe dabei immer wieder lauthals „Bandidos“ gebrüllt und nicht auf die Rufe und Hinweise der Polizisten - auf Deutsch und Englisch - reagiert. Die Schreie auf Polnisch hätten sie ihrerseits nicht verstehen können. Als Richter Michael Neumann den Polizeibeamten fragte, ob dieser denn eine Entschuldigung des Angeklagten annehmen würde. Reagierte dieser souverän: „Ich nehme die Entschuldigung selbstverständlich an“, sagte er mit fester Stimme. Und als der Pole noch einmal auf Deutsch um Entschuldigung bat, entgegnete er: „Alles gut. Hab verstanden!“
Angst vor Banditenbande
Nach der Befragung wagte Verteidiger Brock einen ersten Vorstoß, um das Verfahren abzukürzen. So brachte er die Einstellung des Prozesses wegen einer sogenannten Putativnotwehr vor. Putativ-Notwehr bezieht sich auf die Annahme einer Notwehrsituation, die in Wirklichkeit nicht existiert. Das bedeutet, dass jemand denkt, er müsse sich selbst oder andere verteidigen, obwohl keine tatsächliche Bedrohung besteht. Wenn jemand in einer solchen Situation handelt, könnte er denken, dass er sich in Notwehr befindet, auch wenn dies objektiv betrachtet nicht der Fall ist.
„Mein Mandant hat befürchtet, dass durch die Badezimmertür gleich fünf Banditen stürmen. Da kann es nachvollziehbar sein, dass er dann auch eine Waffe einsetzt, um sich zu verteidigen“, sagte Brock. Gemeinsam mit Nebenklagevertreter Christoph Klostermann aus Meschede und dem verletzten Polizisten kam man zu einer Übereinkunft: vorläufige Einstellung des Verfahrens und 1.000 Euro Schmerzensgeld für den Polizeibeamten. Brock ermahnte seinen Mandanten mit ernster Stimme: „Wenn sie nicht zahlen, sehen wir uns hier wieder. Dann wird ein Haftbefehl ausgestellt. Der gilt auch in Polen.“ Auch Richter Neumann hatte kein Problem damit, das Verfahren abzukürzen, doch dabei hatten alle Beteiligte nicht die Rechnung mit der Staatsanwaltschaft gemacht. Nachdem sich Rechtsreferendarin Flügge telefonisch rückversichert hatte und zurück in den Sitzungssaal gekommen war, erklärte sie überraschend: „Wir stellen bei so einem Verstoß gegen das Waffengesetz und einem Angriff mit einem Messer gegen den Kopf nicht ein“.
Verteidiger ist überrascht
Verteidiger Brock war überrascht: „Nicht?“, fragte er verwundert. Das Gesicht seines Mandanten verdunkelte sich. Doch nachdem der zweite Zeuge, ein 39-jähriger Polizeibeamter, die Ereignisse erneut beschrieben und darauf hingewiesen hatte, dass er Anzeichen von Drogenkonsum und Angst beim Messerstecher festgestellt hatte, willigte die Anklagevertreterin in einen Deal ein. Besonders da sich die Argumentation der Putativ-Notwehr durch diese Aussage weiter gestärkt hatte. Neben der Entschädigung für den Polizisten verzichtet der Pole auf eine Haftentschädigung und gibt sein Butterflymesser ab. Außerdem wird keine Eintragung in das Strafregister des Mannes vorgenommen.