Hochsauerland/Bad Wünnenberg. Unglaublich: 117 Apfelsorten stehen auf der Wiese von Ulrich Klinke. Darunter der „Schöne von Oesdorf“. Warum alte Sorten so gesund sind.
„An apple a day keeps the doctor away“: Der Apfel ist eines der gesündesten Lebensmittel und das Lieblingsobst der Deutschen. Am 11. Januar ist ihm ein Aktionstag gewidmet. Er wurde von den größten Apfel-Erzeugerorganisationen Deutschlands ins Leben gerufen und soll für die Bewahrung der einheimischen Apfelsorten werben. Aber gibt es die überhaupt noch? Wo doch viele nur die Supermarkt-Ware aus fernen Ländern kennen…
Äpfel mit ungeahnten Kräften
Um mit einem echten Fachmann ins Gespräch zu kommen, muss man gar nicht in den sauren Apfel beißen und weit fahren. Denn in Bad Wünnenberg betreibt der ehemalige Apotheker Ulrich Klinke, der in jungen Jahren auch in Brilon gearbeitet hat, als Pensionär einen Bioland-Betrieb. Der 72-Jährige macht das nebenberuflich, aber wenn man sieht, was er so alles macht, dann könnte man glauben, dass heimische Äpfel ungeahnte Kräfte verleihen.
Rüben hacken, Kartoffeln lesen, Kühe melken – all das ging Ulrich Klinke in jungen Jahren auf dem elterlichen Hof ziemlich auf den Nerv. „Aber später als Apotheker habe ich gelernt, wie wichtig eine gesunde Ernährung ist“, sagt der Biobauer, der dadurch die Liebe und Passion zur Landwirtschat und speziell zu Äpfeln gefunden hat. Dass er lange Zeit Vorsitzender der Biologischen Station Paderborn-Senne war, dass er u.a. der Erfinder und Hersteller des legendären Kräuterlikörs „Maikäferflugbenzin“ oder der patentierten, pflanzenbasierten „Jucknix“-Salbe ist, dass er zig Sorten von Obstbränden und Likören herstellt und auf seinen Wiesen 17 Angus-Rinder hält und deren Fleisch vermarktet, sei hier nur am Rande erwähnt. Ulrich Klinke ist jedenfalls Experte auf dem Gebiet der Äpfel.
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Auf einer Fläche von insgesamt 12 Hektar bewirtschaftet er vier Streuobstwiesen, auf denen rund 400 Bäume und 117 verschiedene Obstbaumsorten stehen. Vorher war die Fläche ein ertragloser Acker. 1995 ging’s ans Pflanzen und dafür besorgte er sich über eine Baumschule in Bad Pyrmont die zahlreichen Sorten. Und die haben so phantasievolle Namen wie Westfälischer Gülderling, Sternrenette (fehlte früher auf keinem Weihnachtsteller), Schöner von Oesdorf, Jacob Lebel oder Wünnenberger Zuckerapfel. „Allein im vergangenen Jahr haben wir 20 Tonnen Obst geerntet. Vieles verschenken wir an die Tafeln, außerdem stellen wir Saft her“, sagt Klinke. Den kann man in seinem Hofladen kaufen, große Mengen verschenkt er aber auch an die offene Ganztagsschule. „Damit die Kinder einen Geschmack dafür bekommen, wie echter natürlicher Saft aus heimischen Früchten schmeckt. Dabei kommt es immer auf eine gute Mischung aus Säure und Süße an, die man durch eine Mischung mehrerer Sorten erzielt.“
Heimische Früchte – um die war es damals in unseren Breitengraden eher mau bestellt. „Gutes Obst war den höheren Herren vorbehalten. Vor 1810 hatten vornehmlich die Klöster ein Monopol darauf. Erst als die Provinz Westfalen nach der Vertreibung Napoleons unter preußische Verwaltung kam, wurde flächendeckend Obst angebaut“, weiß Ulrich Klinke zu berichten. „Die Preußen erkannten schnell, dass die Westfalen ein vermehrungsfreudiges Völkchen waren. Um Soldaten zu rekrutieren, war das schon mal gut. Aber sie waren nicht so gesund. Also mussten sie sich gesünder ernähren – zum Beispiel durch Äpfel.“
Große Datenbank über Obstsorten
Wer sich für heimische Apfelsorten interessiert, der sollte mit einer guten Baumschule Kontakt aufnehmen, die noch selbst veredelt.
Hilfreich ist aber auch das Buch „Alte Obstsorte neu entdeckt für Westfalen und Lippe“.
Der Fachmann empfiehlt auch die Internetseite des BUND Lemgo mit einer sehr umfangreichen Obstdatenbank.
In Bad Wünnenberg gibt es das Grandmühle-Museum, das sich mit historischer Landtechnik aber auch mit Streuobstwiesen beschäftigt. In Zusammenarbeit mit der Biologischen Station Paderborn-Senne werden dort auch Obstwarte ausgebildet.
Äpfel sollte man räumlich getrennt von anderem Obst aufbewahren. Zwar haben z.B. die Apfelsorten mit glänzend, speckiger Schale schon einen natürlichen Schutz, um die Ausdünstung des Gases Ethylen zu verringern. Das fördert zwar generell die gewünschte Nachreifung, kann aber auch dazu führen, dass andere Arten schneller verderben.
Die Bezirksregierung in Minden etablierte daher eine Obstbaumschule in der Nachbarstadt Büren, von wo die jungen Pflanzen auf die Bezirke Minden und Arnsberg verteilt wurden. Die Dorfschulmeister hatten bis zum Zweiten Weltkrieg die Pflicht, sich um die Vermehrung der Pflanzen zu kümmern und Obstgärten anzulegen. Im Unterricht gab es ein eigenes Fach für „Obstbaumkunde“ und so ist es zu erklären, dass immer neue Sorten und Unterarten gezogen wurden. Klinke: „Die heimische Region ist für Apfel, Birnen und Co. bestens geeignet, weil es hier Hanglagen in den geeigneten Höhenlagen zwischen 150 und 600 Meter gibt und deshalb die kalte Luft während der Nachtfröste abfließen kann. Was vermutlich viele nicht wissen: „Rein theoretisch kann man auf einen Baum sogar mehrere Sorten pfropfen. Jeder Baum besteht aus einer Wurzelgrundlage, einem Stammbildner und der Tragsorte – und das können durchaus unterschiedliche sein.“
Durch die Anordnung der Preußen bekam Obst auch eine wirtschaftliche Relevanz. „Die Stadt Paderborn erzielte damals jährliche Einnahmen von einer Million Reichsmark durch den Obstverkauf. Obstdiebstahl wurde im 19. Jahrhundert mit zehn Talern Strafe belegt – die konnte ein kleiner Mann nicht aufbringen. Und bis ins Jahr 1980 ist überliefert, dass einzelne Obstbäume vom Ortsvorsteher oder Gemeindediener für die Ernte Jahr für Jahr neu versteigert wurden.“
Aus optischen Gründen kastriert
Und heute? Ständig ist „frisches“ Obst aus Übersee verfügbar. Klinke: „Dabei sind heimische und alte Apfelsorten durchaus bis zur nächsten Ernte lagerfähig. Die Keller sind heutzutage zu warm, aber in einer Garage und in Kisten gelagert und gegebenenfalls bei extremer Kälte zugedeckt, überwintern die Äpfel sehr gut.“ Wer einmal einen heimischen Apfel aufschneidet, der merkt, dass er an der Schnittstelle schnell braun wird. Klinke: „Das liegt an den Polyphenolen. Ich nenne sie immer Rostschutzmittel. Denn die Reparaturmechanismen schützen unsere Zellen und sind sehr gesund. Die hat man herausgezüchtet, weil man die Färbung nicht mochte. Ich sage immer, man hat sie aus optischen Gründen kastriert.“ Menschen, die heutzutage beim Verzehr von Äpfeln ein Kratzen im Hals bekommen und allergisch reagieren, sollten es daher einmal mit alten Sorten versuchen – auch hier sorgen die Polyphenole für eine bessere Verträglichkeit. Klinke: „Ich esse übrigens beim Apfel alles mit – bis auf den Stiel. Denn die meisten Vitamine und Nährstoffe sitzen unter der Schale.“ Und ganz ehrlich. Wer einmal heimische Äpfel probiert hat, der wird von der geschmacklichen Vielfalt beeindruckt sein.