Korbach/Volkmarsen. Bei der Amokfahrt in Bad Arolsen wurden dutzende Menschen schwer verletzt. Nun steht ein Mann vor Gericht, der gar kein Opfer sein soll.

Die Polizei musste ihn abholen, weil er zum Prozessbeginn um 12 Uhr nicht erschienen war. Mit 45 Minuten Verspätung hatvor dem Amtsgericht in Korbach der Prozess gegen einen 54-Jährigen aus Bad Arolsen begonnen, der sich fälschlicherweise als Geschädigter der Amokfahrt von Volkmarsen ausgegeben haben soll. Vorgeworfen wird dem Mann gewerbsmäßiger Betrug in drei Fällen, wovon es in zwei Fällen beim Versuch blieb. Er soll sich finanziell bereichert und einen Gesamtschaden in Höhe von fast 50.000 Euro angerichtet haben. Gegenüber der Unfallkasse Hessen soll der Angeklagte zuvor angegeben haben, er sei in Volkmarsen Augenzeuge und Ersthelfer bei der Amokfahrt am Rosenmontag 2020 gewesen. Infolgedessen leide er an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Tatsächlich soll er sich an dem Tag in seiner Wohnung in Bad Arolsen aufgehalten und aus den Medien von den schrecklichen Ereignissen in Volkmarsen erfahren haben, so die Staatsanwaltschaft.

Schreckliche Bilder: Nachdem vor fast vier Jahren ein Auto in den Rosenmontagszug in Volkmarsen gefahren war, gab es viele Verletzte, darunter auch Kinder.
Schreckliche Bilder: Nachdem vor fast vier Jahren ein Auto in den Rosenmontagszug in Volkmarsen gefahren war, gab es viele Verletzte, darunter auch Kinder. © Uwe Zucchi/dpa | Uwe Zucchi/dpa

Richterin Sabrina Franken musste gegen Ende des ersten Verhandlungstages am späten Dienstagnachmittag erst mal kräftig durchatmen. Für die Staatsanwältin stand schon fest, dass sie genug gehört hatte. Und der Pflichtverteidiger? Der war ohnehin kaum in Erscheinung getreten. Nicht eine einzige Frage hatte er in Richtung der vier Zeugen gestellt – mit seinem Mandanten, der sich Vorteile aus der Amokfahrt von Volkmarsen verschafft haben soll, hatte er zudem nur wenige Worte gewechselt. Schon allein dies war Ausdruck dafür, dass die vorgetragene Geschichte des Angeklagten hinten und vorne nicht stimmen kann. Aber der Reihe nach.

Die Anklage

Dem 54-jährigen Arolser wird vorgeworfen, sich als vermeintlich Geschädigter der Amokfahrt in Volkmarsen ausgegeben und sich finanzielle Leistungen und Behandlungen erschlichen zu haben, die ihm nicht zustanden. Rund 16 700 Euro Verletzten- und Krankengeld sollen somit illegal an ihn gegangen sein – bei der Unfallkasse Hessen soll er einen Schaden in Höhe von 33 000 Euro angerichtet haben.

Ein Zeichen für die Opfer: In der Volkmarser Marienkirche fand am 25. Februar 2020, einen Tag nach der Amokfahrt am Rosenmontag, ein Solidaritätsgottesdienst statt.
Ein Zeichen für die Opfer: In der Volkmarser Marienkirche fand am 25. Februar 2020, einen Tag nach der Amokfahrt am Rosenmontag, ein Solidaritätsgottesdienst statt. © Elmar Schulten | Elmar Schulten

Der Angeklagte

Der Mann aus Bad Arolsen, der schon mehrfach wegen Betrugs, versuchten Betrugs und Geldwäsche zu Geld- und Bewährungsstrafen verurteilt worden ist, musste zunächst einmal von der Polizei zur Verhandlung nach Korbach gebracht werden. Er habe geschlafen, sagte er in Richtung der Richterin. Diese riet ihm, sich am Tag des nächsten Prozesstermins einen Wecker zu stellen. Zur Anklage wollte sich der 54-Jährige nicht äußern – die Fragen der Richterin und der Staatsanwältin beantwortete er aber.

Lesen Sie auch:Skigebiete Sauerland: Vier Geheimtipps abseits großer Pisten

Mehrfach betonte der Angeklagte, dass die Vorwürfe gegen ihn nicht stimmten. Er sei an dem Tag der Amokfahrt in Volkmarsen gewesen. „Ich bin mit dem Zug nach Volkmarsen gefahren, war einige Zeit vor dem Rosenmontagszug dort und habe noch eine Bratwurst gegessen“, sagte er. Er habe sich anschließend in die Nähe des Jägerhofs an die Straße gestellt und auf den Umzug gewartet. Dass ein Auto in die Menge gerast sei, habe er gar nicht mitbekommen. Er sei danach einer älteren Frau zu Hilfe gekommen, die nach ihrer Tochter gesucht habe und aufgelöst gewesen sei. „Ich habe sie beruhigt und zu diesem Zeitpunkt nur funktioniert“, sagte der Angeklagte, der auch von einem kleinen Mädchen in einem Prinzessinen-Kostüm sprach, das direkt beim Jägerhof gestanden habe. „Das ist von seiner Mutter abgeholt worden“, sagte er. Auf die Frage der Richterin, ob die Mutter unversehrt geblieben sei, antwortete der 54-Jährige mit „Ja“.

Die Sprachnachrichten

Richterin Sabrina Franken spielte während der Verhandlung zahlreiche Sprachnachrichten ab, die der heute 54-Jährige einer damaligen Freundin am Tag der Amokfahrt am 24. Februar 2020 geschickt hatte – in einer um 14.44 Uhr sagt der Angeklagte: „Wenn wir uns umentschieden hätten und wären nach Volkmarsen gefahren, dann hätten wir da auch gestanden.“ Nur wenige Minuten später berichtet der Beschuldigte in weiteren Nachrichten davon, dass auch Bad Arolsen voller Feuerwehr und Polizei sei und sich alles jetzt auf den Weg nach Volkmarsen mache. „Das muss da ganz schlimm aussehen“, heißt es in einer Sprachnachricht des Angeklagten am Tag der Amokfahrt.

Lesen Sie auch: Flüchtlingskrise: Olsberger Bürgermeister mit ernstem Appel

Lesen Sie auch: Flüchtlingskrise in Brilon: Turnhalle als letzter Ausweg

Zwischenzeitlich steht der Mann per Whatsapp in Kontakt mit einem Bekannten. Ein Foto, das den vermeintlichen Täter der Amokfahrt zeigt, kursiert in dem Messaging-Dienst und erreicht auch den Angeklagten aus Bad Arolsen. Beide kommen auf die Idee, das Bild an einen Privatsender zu verkaufen. Es folgt ein Mailverkehr, der Sender lehnt das Bild ab, weil es verpixelt ist. Allerdings bekommt der Arolser im Zuge dessen eine Interviewanfrage. Seinem Bekannten teilt er per Whatsapp daraufhin mit: „Ich weiß gar nicht, ob ich das mache. Ich kann ja nicht richtig was sagen, weil ich ja gar nicht da war.“

Die Zeugen

Die erste Zeugin ist diejenige, die den 54-Jährigen angezeigt hat. Die 53-jährige Arolserin bestätigt den Inhalt der zuvor im Verfahren abgespielten Sprachnachrichten. „Er hat den Spieß dann irgendwann umgedreht und gesagt, er war in Volkmarsen. Aber ich wusste, dass das nicht stimmen kann und habe ihn auch damit konfrontiert“, berichtet sie. Die Zeugin spielt daraufhin eine weitere Sprachnachricht ab, in der sie den Beschuldigten am Tag der Amokfahrt um 15.01 Uhr fragt, ob er auch Karneval in der ARD schaue? Die Antwort des Angeklagten: „Ja, im Moment ist ja aus Köln.“ Auch die zweite Zeugin kann glaubhaft erklären, dass der Arolser am 24. Februar 2020 nicht in Volkmarsen gewesen sein kann. Als weitere Zeuginnen sagen zwei Hauptkommissarinnen aus. Sie schildern die späteren Vernehmungen und Gespräche mit dem 54-Jährigen.

„Es war einiges auffällig. Immer, wenn ich nach Details gefragt habe, hat er mir ausweichend geantwortet“, sagt eine der beiden Polizeibeamtinnen. Außerdem habe der Angeklagte nicht gewusst, dass die teilnehmenden Gruppen des Rosenmontagsumzuges aus Richtung des Marktplatzes gekommen seien. „Er sagte, sie seien von den Bahnschienen her gekommen. Auch wusste er nicht, wo genau der Amokfahrer in die Menschengruppe gefahren ist. Das war aber allen bekannt, die dort waren“, sagte eine der beiden Hauptkommissarinnen. Hinzu komme: Auf keinem der Videos oder Fotos, die unter anderem auch genau von dem Ort gemacht worden seien, wo sich der Angeklagten aufgehalten haben will, sei er zu sehen gewesen.

Die Reaktion

Der Angeklagte begründete die vielen Widersprüche vor allem damit, dass er sich damals in einer Schocksituation befunden habe. Die Sprachnachrichten habe er wirklich alle aus Volkmarsen verschickt – wegen der schlimmen Ereignisse vor Ort sei es aber doch auch normal, wenn der Inhalt der Nachrichten teils nicht nachvollziehbar sei. An einiges erinnere er sich jetzt auch nicht mehr. Dass alle Prozessbeobachter beim Anhören der Sprachnachrichten keinerlei Hintergrundgeräusche vernommen hatten, die auf die Amokfahrt und das Chaos drumherum schließen ließen, schien den Beschuldigten nicht zu beeindrucken.

Die Hintergründe

Am 24. Februar 2020 war ein damals 29-Jähriger gegen 14.30 Uhr vorsätzlich in eine Zuschauermenge beim Rosenmontagszug in Volkmarsen gerast. Die Anzahl der Opfer wurde später mit 122 körperlich beziehungsweise mehr als 154 körperlich oder seelisch Verletzten angegeben. Unter den Verletzten waren 26 Kinder, das jüngste drei Jahre alt. Der Fahrer wurde Ende 2021 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. dau

Der Prozess wird am 28. November fortgesetzt.