Hochsauerlandkreis. Noah stirbt mit nur 22 Jahren an den Folgen seiner Drogensucht. Seine Eltern aus dem Sauerland erzählen die berührende Geschichte ihres Sohnes.
Es ist jetzt genau ein Jahr her, dass der jahrelange Alptraum der Familie K. das schlimmstmögliche Ende nahm: Ihr ältester Sohn Noah (Name geändert) ist mit 22 Jahren durch Drogenmissbrauch gestorben. Wie schnell selbst vermeintlich harmlose Einstiegsdrogen in eine fatale Suchtkrankheit führen können, die eine ganze Familie mit sich reißt – darüber wollen Noahs Eltern mit seiner Geschichte aufklären.
WP-Newsletter per Mail: Was ist los in Brilon, Olsberg, Marsberg, Winterberg, Medebach und Hallenberg? Holen Sie sich den Newsletter für Ihren täglichen Nachrichtenüberblick
Bis zum zehnten Schuljahr von Noah ist die Welt in Ordnung. Er macht einen guten Abschluss, hat einen Lehrvertrag, zuverlässige Freunde, spielt Fußball, ist Messdiener, bei der Jugendfeuerwehr und im Schützenverein. Auch in der Ausbildung verläuft zunächst alles glatt. Doch nach einigen Monaten stellen die Eltern fest, dass ihr sonst so pflegeleichter Sohn sich verändert. Morgens will er nicht aufstehen, wird unpünktlich und auch aggressiv gegenüber Eltern und Geschwistern. Bekannte vermuten, dass er begonnen hat zu kiffen, zumal einer seiner neuen Kumpel einen entsprechenden Ruf hat. Die Eltern sprechen mit ihrem Sohn, er gibt das Kiffen zu, verspricht Besserung. Doch er hält sein Versprechen nicht, die Sucht hat ihn da schon im Griff.
Lesen Sie auch:Hitziger Schlagabtausch im Rat ums Gymnasium Winterberg
„Es ist doch nur Kiffen“
Irgendwann findet seine Mutter Tabletten bei ihm. Die Eltern wenden sich ans Jugendamt, Ärzte, die Suchtberatung und auch die Polizei. Sie werden beschwichtigt: „Es ist doch nur Kiffen“. Verzweiflung macht sich breit: „Warum hilft uns denn keiner?“ Noah gibt seine Lehre auf, wechselt aufs Berufskolleg, bricht auch das ab und bewegt sich nur noch in einem Umfeld, das selbst Drogen konsumiert. Zuhause wird es immer schwieriger. Die Familie will Jugendhilfe in Anspruch nehmen, aber Noah weigert sich. Seinen Führerschein schafft er und findet eine Stelle als Leiharbeiter. Das Blatt scheint sich wieder zum Guten zu wenden. Doch die Achterbahnfahrt geht weiter – er kommt mit dem Schicht-System nicht klar, nimmt wieder Drogen. Als Noah auch polizeilich auffällig wird, rät die Suchtberatung der Familie, ihn vor die Tür zu setzen, weil Suchtkranke oft erst dann den Kampf gegen ihre Krankheit aufnehmen. Noah macht einen Entzug in der LWL-Klinik in Marsberg. Doch es ist anschließend kein Platz in einer Langzeit-Therapie frei, der ihm helfen könnte, seine Verhaltensmuster zu durchbrechen.
Familie kann kurz aufatmen
Eine Vollzeitstelle und eine eigene kleine Wohnung geben Auftrieb und Struktur. Die gesamte Familie atmet auf……jedoch nur kurz: Die Corona-Pandemie bricht aus, Noah muss in Kurzarbeit, verliert wieder seine Perspektive und flüchtet sich zurück in seine Drogenwelt. Seine Mutter ist verzweifelt: „Irgendwann habe ich bei all den Höhen und Tiefen gar keine Hoffnung mehr zugelassen und bin resigniert aus Angst, wieder enttäuscht zu werden.“ Trotz aller Schwierigkeiten verlieren sie nie den Kontakt zueinander, aber die Situation wird noch schlimmer. Noah muss wegen Drogenbesitz seinen Führerschein abgeben. Sein Chef kündigt ihm. Irgendwann kommt nachts eine Nachricht: „Ich habe meine Benzos verloren, hilf mir!“Noahs Eltern müssen sich erstmal informieren, was Benzodiazepine überhaupt sind: Medikamente, die Patienten mit psychischen Problemen wie u.a. Panikattacken oder Angststörungen zur Beruhigung verschrieben werden und wie ein entspannender Dämpfer wirken. Diese Wirkung hält jedoch oft nur kurz an, die Symptome können wiederkommen und sich verstärken. Wer daraufhin erneut Benzos nimmt, begibt sich in einen Teufelskreis und kann in kürzester Zeit süchtig werden.
Lesen Sie auch:Hitziger Schlagabtausch im Rat ums Gymnasium Winterberg
Medikament mit der höchsten Missbrauchsrate
Benzos gelten daher weltweit als Medikamente mit der höchsten Missbrauchsrate, warnt die Bundesärztekammer. Zwei prominente Opfer sind Michael Jackson und Whitney Houston.Weil Noah zum ersten Mal um Hilfe bittet, lässt sich seine Mutter ein Versprechen geben: „Ich helfe Dir, wenn Du eine Langzeit-Therapie machst.“ Er stimmt zu. Sie telefoniert unzählige Kliniken ab, bis sie einen Platz in der Nähe von Lippstadt findet. Die Entzugs-Erscheinungen sind die pure Hölle, aber Noah hält durch. Der nächste Rückschlag lauert jedoch schon: Es gibt keinen Platz für eine Langzeit-Therapie, erst vier Monate später. Denn der Entzug alleine reicht nicht, es müssen auch tiefgreifende Verhaltensmuster geändert und das Verständnis dafür aufgebaut werden, damit die Betroffenen im Alltag der ständigen Versuchung standhalten. Stattdessen kommt der nächste Absturz. Die Therapie tritt er zwar später an, verlässt die Klinik aber sofort wieder. Ein neuer Job im Gartenbau lässt alle hoffen, denn die Arbeit an der frischen Luft und das geregelte Leben tun Noah sichtbar gut. Wenige Wochen später – Kündigung, Probleme mit dem Arbeitsamt, ein erneuter Rückfall.
Im Oktober 2022 kommt der gefürchtete Moment, der schon lange wie ein Damokles-Schwert über der Familie schwebt: Noah wird tot in seiner Wohnung gefunden. Gestorben an einer Überdosis aus Drogen und Benzos, die zu einer Atemlähmung geführt haben, während er am PC saß.
Lesen Sie auch:Brilon: Fleischwurst mit Rattengift in den Garten geworfen
Viele Fälle gibt es auch in Deutschland
Seine Mutter registriert sich bei einem Online-Trauerportal und trifft dort weitere Mütter, die ihre Kinder auf die gleiche Weise verloren haben. Es zeigt sich, dass es erschreckend viele ähnliche Fälle in ganz Deutschland gibt. Gemeinsam sind die betroffenen Eltern deshalb aktiv geworden, um auf den sich verändernden Drogenmissbrauch und seine dramatischen Gefahren aufmerksam zu machen. Verschiedene Medien und Schulen sind bereits angesprochen worden: „Vielen Jugendlichen und auch Erwachsenen ist gar nicht bewusst, wie schnell selbst angebliche Einstiegsdrogen zu einer Sucht führen und in Kombination mit anderen Mitteln tödlich enden können!“
Fatale Wechselwirkungen mit Alkohol
Denn die vermeintlich harmlosen Party-Glückspillen können auch ohne vorherige Abhängigkeit fatale Wechselwirkungen mit Alkohol oder anderen Drogen auslösen und – wie bei Noah – zu einem Atemstillstand führen. Diese Pillen werden den Jugendlichen nachweislich schon an Bushaltestellen, Treffpunkten oder auf Festen angeboten. Manchmal befinden sie sich als Schmerzmittel (z.B. Tilidin oder Tramadol) sogar im Medikamentenschrank zuhause. Noch ein weiterer Punkt ist Noahs Eltern wichtig: Eine Sucht – dazu gehören neben Drogen, Alkohol auch die Spielsucht oder Essstörungen - ist eine schwere Erkrankung, die nicht mit Zusammenreißen, viel Liebe oder erzieherischen Maßnahmen aus der Welt geschafft werden kann.
Lesen Sie auch:Briloner Verlag über „booktok“und den Aufschwung des Buches
„Warum habt Ihr denn nichts gemacht?“, ist eine Frage, die sehr, sehr weh tut: „Wir haben alles versucht, aber man steht machtlos daneben. Es war ein absoluter Alptraum für uns alle. Ein Suchtkranker muss selbst Hilfe wollen, sonst hat man keine Chance“.Eine Sucht ist keine Charakterschwäche, sondern eine bedrohliche Erkrankung des Stammhirns, die dem Körper suggeriert, dass er Drogen genauso zum Leben braucht wie Essen und Trinken. Es werden biochemische Prozesse ausgelöst, die u.a. zu Depressionen und Angststörungen führen können, denen Abhängige wiederum mit erneutem Drogenkonsum zu entfliehen versuchen. Hinzu kommen das desolate Gesundheitssystem, das zu wenig Kapazitäten hat, sowie teilweise Behörden, denen Verständnis oder rechtliche Grundlagen für durchgreifende Maßnahmen fehlen.Aktiv aufzuklären, damit Jugendliche erst gar nicht in den Drogenstrudel geraten und anderen Familien ein solches Schicksal erspart bleibt, das ist das große Anliegen aller Eltern aus dem Trauerportal: „Unsere Kinder sollen nicht umsonst gestorben sein.“