Brilon/Hochsauerlandkreis. Die Medikamenten-Knappheit in Deutschland ist bedrohlich. Apothekerin Sandra Dietrich-Siebert aus Brilon ist frustriert. Sie spricht Klartext.
Lieferengpässe und Unterfinanzierung - dagegen wollen sich Apotheken in ganz Westfalen-Lippe wehren. Bereits im Juni hatten sie mit Demonstrationen und Schließungen auf ihre Situation aufmerksam gemacht, jedoch ohne Erfolg. Daher protestieren Apotheken in ganz Deutschland am 27. September und viele schließen ihre Betriebe ab 13 Uhr für einige Stunden. Besonders mit Blick auf den Herbst und Winter bangt auch Sandra Dietrich-Siebert von der Briloner Adler-Apotheke um die Versorgungslage.
Warum die Politik so schnell wie möglich eingreifen muss
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Sandra Dietrich-Siebert und viele andere Apotheker sind frustriert: Seit dem 14. Juni, dem Apotheken-Protesttag, hat sich nichts verändert. Zu dem Zeitpunkt waren die kritische wirtschaftliche Lage vieler Betriebe, Fachkräftemangel und die schlechte Honorierung des Personals schon Gesprächsthema und sind es noch. Lieferengpässe gelten als besonders heikles Thema. „Uns liegen riesige Defektlisten an Medikamenten vor, die derzeit nicht lieferbar sind. Dabei haben wir einen Versorgungsauftrag zu erfüllen – das ist kein Zustand“, so Sandra Dietrich-Siebert. In der Briloner Adler-Apotheke sind es rund 450 Arzneimittel, die eigentlich vorrätig im Lager sein sollten und nun fehlen: Darunter lebensrettende Medikamente wie Antibiotika, Insuline, Asthmasprays und Kinderarzneimittel.
Pharmahersteller verkaufen dahin, wo es mehr Geld gibt
Grund für die Lieferengpässe seien Rabattverträge, die Krankenkassen mit Pharmaherstellern schließen. Durch die Vergünstigung bekommen Patienten ein bestimmtes Präparat nur von diesem Hersteller – dadurch werden jedoch nur minimale Arzneimengen ins Land importiert, erklärt Sandra Dietrich-Siebert. Ganz anders sieht es im tierärztlichen Bereich aus, denn hier gibt es keine Lieferengpässe. Der Grund: Das Antibiotikum Amoxicillin beispielsweise ist in der Veterinärmedizin teurer und Pharmahersteller verkaufen lieber dahin, wo es mehr Geld gibt. „Was ist in Deutschland wichtiger – Katze oder Kind?“, hinterfragt Sandra Dietrich-Siebert die ungleiche Verteilung der Liefersituation.
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Für die Vorsitzende der Bezirksgruppe Hochsauerland im Apothekerverband Westfalen-Lippe (AVWL) sind die Defektlisten täglich mit erheblichem Zeitaufwand verbunden, weil jedes zweite Rezept mittlerweile davon betroffen ist. „In solchen Fällen müssen wir versuchen, anderweitig Lösungen zu finden. Wir telefonieren uns die Finger wund und sprechen mit Ärzten über lieferbare Ausweichmedikamente, um die Therapie des Patienten trotzdem sicherstellen zu können. Bei uns geht niemand unversorgt aus der Apotheke!“, berichtet sie.
Im letzten Winter haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Adler-Apotheke daher viele Überstunden gemacht und wichtige Arzneimittel wie Paracetamol selber hergestellt – dafür wurden sie jedoch nicht bezahlt. Kurz vor der nächsten Erkältungssaison gebe es nun keine wirksame Lösung, wie Lieferengpässe bei Arzneimitteln zu handhaben seien. Zugleich werde die Apothekendichte vor allem im ländlichen Bereich immer dünner. „In den vergangenen 20 Jahren ist die Apothekenvergütung nur ein einziges Mal erhöht und in diesem Jahr sogar gekürzt worden. Bei explodierenden Kosten, hoher Inflation und steigendem Aufwand kann das nicht gutgehen“, warnt Sandra Dietrich-Siebert. „Wir brauchen eine Honorarerhöhung – jetzt!“ Die Unterfinanzierung begünstige zusätzlich den Fachkräftemangel, da Nachfolger keine Perspektive mehr in dem Beruf sehen.
Lauterbach wirft Apotheken Panikmache vor
Ein Beitrag des ARD-Morgenmagazin vom 14. September macht Apothekerinnen und Apotheker in Deutschland besonders wütend: Im Interview geht Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) davon aus, dass es in diesem Winter weniger Medikamentenengpässe geben wird als im letzten Jahr. Daraufhin wirft er den Apotheken Panikmache vor: Sie würden die Bevölkerung verunsichern und die Lieferengpässe dramatisieren, um ihre Gehälter zu erhöhen. „Das ist Verleumdung und eine Beleidigung! Der Arzneimittelmangel ist real und wir stehen derzeit mit dem Rücken zur Wand. Die Apotheken sind schon am Limit und werden von der Politik nur hingehalten“, betont Sandra Dietrich-Siebert.
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Daher führen einige Apotheken in Westfalen-Lippe den Protest fort und schließen am 27. September um 13 Uhr stundenweise ihre Betriebe, um ein Zeichen zu setzen. „In dieser Zeit wollen wir zusammen mit unseren Teams die Videobotschaft verfolgen, die Karl Lauterbach auf dem Deutschen Apothekertag in Düsseldorf übermittelt“, so die Vorsitzende der Bezirksgruppe Hochsauerland des AVWL. Im Vorfeld hat die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) sechs Fragen an den Bundesgesundheitsminister gestellt: Darin thematisieren sie die Honorierung, die flächendeckende Arzneimittel-Versorgung, die Rabattverträge und weitere wichtige Themen. Am sogenannten „Tag der Antworten“ hoffen sie von Karl Lauterbach endlich Erklärungen zu erhalten. „Der Minister muss sich in seiner Rede vor unseren Mitarbeitern wie auch den Apothekeninhabern verantworten, warum er die Arzneimittelversorgung und die Apotheken vor die Wand fahren lässt“, sagt Sandra Dietrich-Siebert.
Notdienstapotheken sichern pharmazeutische Versorgung
Besorgte Patienten kann die Leiterin der Briloner Adler-Apotheke dennoch beruhigen: „Nicht alle Apotheken nehmen an der Protestaktion teil - das kann jeder Inhaber selber entscheiden. Wir haben ab 16 Uhr wieder geöffnet und während unserer Schließung sichern Notdienstapotheken im Hochsauerland die Versorgung in akuten Fällen“, erklärt sie. Am Nachmittag des 27. September wären das zum Beispiel die Post-Apotheke in Olsberg und die Berg-Apotheke in Willingen. Betroffene können auf der Seite www.aponet.de ebenfalls einen Apotheken-Notdienst in ihrer Nähe ausfindig machen. Für die Zukunft hofft Sandra Dietrich-Siebert, dass die Apotheken mit ihren Problemen Gehör finden und sie appelliert an die Politik: „Die pharmazeutische Versorgung sollte das A und O sein, deshalb kann und darf an Apotheken nicht so extrem gespart werden. Es muss sich endlich etwas ändern!“