Bigge. Jahrzehntelang lebt sie als Mann, mit 56 Jahren wagt sie einen mutigen Schritt: Nora Dahmer über ihren Weg und das Trans-Sein.

Nora Dahmer, die bis dahin ein vermeintlich ganz gewöhnliches Leben als Familienvater und erfolgreicher Unternehmer geführt hatte, schlug vor drei Jahren und nach vielen schlaflosen Nächten endlich ihren ganz eigenen Weg ein: künftig ohne Wenn und Aber als Frau zu leben und dies mit allen Konsequenzen. Ihr Buch schildert ihren persönlichen Werdegang beeindruckend offen. Am Mittwoch, 19. April, um 17 Uhr liest sie aus ihrem Buch im Josef-Prior-Saal des Bigger Josefsheims.

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Im Spiegel immer einen fremden Menschen gesehen

Wann haben Sie zum ersten Mal gespürt, dass Sie nicht im richtigen Körper leben, dass Sie eine Frau sein möchten? Wann haben Sie darauf reagiert und Konsequenzen gezogen?

Ich habe mit 14 Jahren festgestellt, dass ich ein Mädchen bin. Es hat sich über Jahre aufgebaut und so wurde aus einer Irritation mit 14 Jahren die Gewissheit, dass meine Identität weiblich ist. Und das, obwohl ich einen eindeutig biologisch männlichen Körper hatte. Für einen jugendlichen Menschen, der auch eindeutig heterosexuell ist, passt das alles einfach nicht zusammen. Das für mich eindrücklichste Zeichen einer anderen geschlechtlichen Identität ist der Blick in den Spiegel. Über 40 Jahre habe ich dort immer einen fremden Menschen gesehen. Diese 40 Jahre habe ich es aber auch weitestgehend geschafft, mich damit zu arrangieren. Ich hatte ein sehr schönes Familienleben mit einer tollen Frau und lieben Kindern. Ich war beruflich sehr erfolgreich und hatte ein grundsätzlich glückliches Leben. Dann bekam ich gesundheitliche Probleme, die in meinem Coming-out mit 56 Jahren mündeten. Mein Körper hat mich dazu gezwungen.

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Stichwort Transidentität

Viele haben Probleme mit den Begrifflichkeiten. Können Sie kurz und in einfachen Sätzen erklären, was Transidentität überhaupt ist?

Transidente Menschen sind Menschen, die in einem biologisch bestimmten Geschlecht geboren wurden, sich aber gefühlsmäßig auf der Identitätsebene diesem nicht zuordnen. Dann ist es für Menschen meiner Generation in der Regel so, wenn man nur mit zwei möglichen Geschlechtern aufgewachsen ist, dass man sich ganz konkret dem anderen Geschlecht zugehörig fühlt. Heute ist es gesellschaftlich freier, sodass es auch Menschen gibt, die sich zwischen den Identitäten einordnen (non-binär), also sich faktisch nicht nur dem Geschlecht zugehörig fühlen, in das sie hineingeboren wurden. Identität ist eine ganz natürliche Empfindung. Ich vergleiche das immer mit Linkshändern, die sich die linke Hand auch nicht ausgesucht haben. Transidente Menschen haben sich ihre Identität nicht ausgewählt, es wurde auch nicht anerzogen und es kann auch nicht therapiert werden. Es ist keine psychische Erkrankung, wie viele meinen, sondern einfach eine „Laune“ der Natur. Sie können nur lernen, damit zurecht zu kommen. Und das ist bis zu einem Coming-out eine erhebliche psychische Belastung.

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Wie hat Ihr Umfeld auf Ihre Entscheidung reagiert? Was hat sich maßgeblich in Ihrem Leben verändert?

Insgesamt habe ich viel Glück in meinem Umfeld gehabt. Familie und Freunde waren sehr überrascht, aber alle haben verständnisvoll reagiert und mich bis heute unterstützt. Zugute kam mir dabei, dass ich sehr offen war und die Hintergründe ausführlich erläutert habe, um die Menschen mitzunehmen. Beruflich habe ich die Reißleine gezogen und nach 17 Jahren Krisenmanagement für Familienunternehmen meine eigene Firma geschlossen. Insgesamt hat sich sehr, sehr viel im Leben geändert. Ich bin noch freiberuflich tätig und mache auch beruflich nur das, was ich als richtig empfinde. Meine Partnerschaft ist auch wegen meines Coming-outs beendet. Meine Ex-Frau unterstützt mich aber bis heute großartig.

Nora Dahmer hat ein Buch geschrieben.
Nora Dahmer hat ein Buch geschrieben.

Schwierige Strukturen auf dem Land

Die Strukturen hier auf dem Land sind etwas schwieriger als in einer größeren Stadt. Was würden Sie einem jungen Menschen raten, der über sich und seine Rolle im Unklaren ist? Gibt es überhaupt gute Beratungsstellen, bei denen man Unterstützung bekommen kann?

Auf dem Land ist es sicher schwieriger, sich zu outen als in der Stadt. Für die Menschen im Umfeld löst ein Coming-out grundsätzlich immer viel Irritationen und Verunsicherung aus. Leider gibt es zahlreiche Vorurteile und Klischees, die kombiniert mit Unwissenheit über die Hintergründe zu Vorverurteilungen und Diskriminierungen führen. Häufig denken Angehörige zunächst darüber nach, was wohl die Nachbarn etc. sagen, statt sich der Eigenschaft des eigenen Familienmitglieds zu stellen. Auch die Tatsache, dass Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung nichts miteinander zu tun haben, ist vielen völlig fremd. Das alles führt oft dazu, dass sich junge Menschen, die ihre Identität hinterfragen oder wissen, dass die biologische und gefühlte Identität abweichen, große Angst haben, sich zu outen. In Kombination mit der Überforderung des Umfelds kann das zu großen psychischen Problemen führen. Grundsätzlich benötigen Menschen mit diesen Eigenschaften professionelle Unterstützung. Nicht um zu therapieren, sondern um Hilfestellungen bei den weiteren Schritten und zur Stärkung der eigenen Psyche zu bekommen. Leider gibt es noch viel zu wenig Beratungsstellen, die helfen können. Und gerade in ländlicheren Regionen sind sie rar gesät.

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Wie sieht es mit den Angehörigen aus?

Ja, man darf nie vergessen, dass auch Angehörigen im Falle eines Coming-outs psychologische Betreuung guttun kann, damit sie lernen, dass die neu bekannte Eigenschaft des eigenen Kindes auch viele schöne Seiten hat.

Viele regen sich über das Gendern im Sprachgebrauch auf. Für wie wichtig halten Sie es, dass sich geschlechtliche Vielfalt auch in unserer Sprache niederschlägt?

Ich selbst tue mich mit Gendern schwer. Das liegt in erster Linie nicht an einer Ablehnung, sondern der Gewöhnung, die Sprache anders gelernt zu haben. Daher erscheinen mir manche Formulierungen, Sternchen etc. teilweise sprachlich fremd oder auch einfach zu übertrieben. Mir hat mal jemand gesagt, dass ja 95 Prozent kein Interesse daran haben, weil normale Menschen Gendern nicht benötigen. Ich finde, das ist sehr respektlos, da auch die von ihm ausgeklammerten fünf Prozent einen Anspruch haben, erstens als normal wahrgenommen zu werden und zweitens so angesprochen zu werden, wie es sich gehört. Und darum sollte man sich Mühe geben, ohne es aber zu übertreiben. Vor allem sollten viele männliche Gegner des Genderns auch berücksichtigen, dass es nicht nur um Minderheiten geht, die respektvoll sprachlich gewürdigt werden sollten, sondern dass viele Begrifflichkeiten in der deutschen Sprache auch stark auf die männliche Form ausgerichtet sind und ein wenig mehr geschlechtsneutrale Begriffe nicht schaden können.

Transgender und Diversität

Die Themen Transgender und Diversität sind aus der öffentlichen gesellschaftlichen Diskussion nicht mehr wegzudenken. Sie verlangen gerade auch von Mitarbeitenden in Reha-Einrichtungen ein Höchstmaß an Sensibilität. Aber was steckt genau dahinter? Sexuelle Orientierung und Geschlechts-Identität - was ist der Unterschied? Nora Dahmer berichtet in ihrem Buch sowie in der Lesung offen über all diese Aspekte.

Der Eintritt ist frei. Um Sitzplatzreservierung per Email wird gebeten: info@josefsheim.de.

Weitere Informationen zum Buch und zur Person unter www.noradahmer.de

Viele haben Angst, Kontakte zu ihren Familien zu verlieren. Wie war das bei Ihnen und was kann man tun, damit das nicht passiert?

Leider ist die Angst in vielen Fällen mehr als berechtigt. Das war auch ein Grund, mich erst so spät zu outen. Am liebsten hätte ich es mit ins Grab genommen. Nur durch die Reaktionen meines Körpers – ich habe z.B. das Jahr vor meinem Outing kaum schlafen können – habe ich den Mut aufgebracht. Mit den vielen positiven Reaktionen hatte ich nicht gerechnet, weil mir mein Kopfkino ganz andere Szenarien vorhergesagt hatte. Um zu verhindern, dass junge Menschen, die in der heutigen Zeit aufwachsen, ihre Besonderheit viele Jahre mitschleppen, müssen wir aufklären. Wenn das Umfeld die Hintergründe besser versteht, kann man familiäre Katastrophen vielleicht vermeiden. Deswegen gehe ich heute in Berufskollegs und in Unternehmen, um in Workshops und Fortbildungen Lehrkräfte und Führungskräfte im Umgang mit betroffenen Menschen zu schulen und zu sensibilisieren. Weiter habe ich letztes Jahr mein Buch „Endlich Nora!“ geschrieben, um Angehörigen nahezubringen, dass Betroffene keinem Trend nachjagen oder eine „Macke“ haben, sondern dass es eine ganz natürliche Variante ist, die keinem anderen Menschen schadet.

In Normalität leben

Würden Sie sagen, dass Sie jetzt ein anderer Mensch als vorher sind?

Ja, auf jeden Fall. Mein Vorteil ist, dass ich auf ein glückliches und erfolgreiches Leben vor meinem Coming-out zurückschauen kann und deswegen nicht mit meiner männlichen Vergangenheit hadere. Aber dass ich jetzt ICH sein darf, in den Spiegel schaue und MICH sehe, ist ein echtes Geschenk. Diese Selbstverständlichkeit, die für die meisten Menschen völlig normal ist, habe ich nun auch kennenlernen dürfen. Ich habe zudem gelernt, über Emotionen und Gefühle zu sprechen. Ich habe feststellen dürfen, dass alle wichtigen Menschen weiter zu mir stehen. Ich lebe heute in einer neuen Normalität, die ich jedem anderen transidenten oder non-binären Menschen nur wünschen kann. Und ich würde nie mehr mit meinem männlichen Ego tauschen wollen, auch wenn er selbst ganz nett war.