Bad Arolsen/Berlin. Todesopfer soll er in Kauf genommen haben. Vor Gericht sitzt ein Mann, der absichtlich in eine Schulklasse aus Bad Arolsen gerast sein soll.

Fotos und Videos auf einer großen Leinwand skizzieren die tödliche Autofahrt an jenem 8. Juni 2022 im Schatten der Berliner Gedächtniskirche. Die Bilder führen am Dienstag im Saal 500 des Berliner Landgerichts vor Augen, was angerichtet wurde, als ein Autofahrer mit seinem Wagen in Fußgänger raste. Ein 29-jähriger Mann soll dies vor acht Monaten mit Absicht getan haben. Ihm sei dabei bewusst gewesen, dass es Todesopfer geben könnte, das habe er billigend in Kauf genommen, so der Vorwurf der Staatsanwaltschaft. Sie wirft ihm Mord und versuchten Mord sowie gefährliche Körperverletzung vor.

Berlin: Der Platz des Angeklagte bleibt zum Beginn des Prozesses nach der Todesfahrt in der Berliner Innenstadt mit einer Toten und zahlreichen Schwerverletzten leer. Die Berliner Staatsanwaltschaft wirft dem 29-Jährigen unter anderem vollendeten
Berlin: Der Platz des Angeklagte bleibt zum Beginn des Prozesses nach der Todesfahrt in der Berliner Innenstadt mit einer Toten und zahlreichen Schwerverletzten leer. Die Berliner Staatsanwaltschaft wirft dem 29-Jährigen unter anderem vollendeten "Heimtückemord" sowie 16-fachen Mordversuch vor. © dpa | Fabian Sommer

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Lehrerin kommt ums Leben

Von der Todesfahrt auf dem Kurfürstendamm (Ku’damm) und der Tauentzienstraße war vor allem eine Schulklasse aus Bad Arolsen betroffen. Die 51 Jahre alte Lehrerin der 10. Klasse der Kaulbach-Schule starb noch am Tatort. Ein Kollege sowie elf Schülerinnen und Schüler wurden verletzt, manche lebensgefährlich. Auch eine 14-Jährige, die mit ihren Großeltern in Berlin zu Besuch war, gehörte zu den Betroffenen. Weitere Opfer waren eine 32-Jährige, die im siebten Monat schwanger war, sowie zwei vor einem Imbiss stehende 29 und 31 Jahre alte Männer.

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Elf Betroffene sind in dem Prozess auch als Nebenkläger vertreten. Ihr Platz im Gerichtssaal bleibt jedoch leer, lediglich ihre Anwälte verfolgen das Geschehen. Wie der Vorsitzende Richter Thomas Groß zum Prozessauftakt erklärt, besteht bei zahlreichen Opfern die Gefahr einer Retraumatisierung durch das Verfahren. Vor allem den betroffenen Jugendlichen will er darum nach Möglichkeit eine zusätzliche psychische Belastung durch eine weitere Zeugenvernehmung ersparen. Um ihre Erlebnisse gleichwohl im Prozess berücksichtigen zu können, sollen frühere Aussagen verlesen werden. Er wolle so den jungen Leuten „hier Raum geben, ohne sie in diesen Raum zu zwingen“, erklärt Groß.

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Schuldunfähigkeit

Der Beschuldigte, der nach eigenen Angaben die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, ist seit der Todesfahrt in einem Krankenhaus des Maßregelvollzugs untergebracht. Ein vorläufiges psychiatrisches Gutachten legt laut Staatsanwaltschaft die Schuldunfähigkeit des Mannes nahe. In einem sogenannten Sicherungsverfahren strebt Staatsanwältin Silke van Sweringen die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Seit mindestens 2014 sei der in Armenien geborene Mann an einer Schizophrenie erkrankt. Ohne Behandlung ist aus Sicht der Behörde zu befürchten, dass der Beschuldigte weitere gefährliche Taten begeht.

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Erinnerungen kommen hoch

In Bad Arolsen kommen in diesen Tagen die Erinnerungen an jenen Sommertag 2022 noch einmal mit voller Wucht zurück. Im Korbacher Kreishaus beantworteten Arolsens Bürgermeister Marko Lambion, Landrat Jürgen van der Horst und Dr. Axel Wölker als Leiter der Kaulbach-Schule am Tag vor der Verhandlung Fragen von Journalisten. Vor allem Fernseh- und Radioreporter hatten darauf gedrängt, im Vorfeld des Prozesses mit den Opfern sprechen zu können. Doch solche Anfragen waren von Bürgermeister und Landrat strikt abgelehnt worden.

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Mittlerweile hätten die Schülerinnen und Schüler ihren Abschluss gemacht und die Schule verlassen. Sie, ihre Eltern und die Schule seien aber durch eine Chatgruppe miteinander vernetzt. Nach den entsetzlichen Geschehnissen im Juni vergangenen Jahres hätten in der Schulgemeinde viele Gespräche, Austausche, psychologische Betreuung und gemeinsame Gedenk-Möglichkeiten stattgefunden, um die schrecklichen Ereignisse zu verarbeiten.

Diese säßen verständlicherweise tief, der Schulalltag konnte aber nach und nach wieder einkehren. Es bestehe weiterhin die Möglichkeit der psychologischen Unterstützung durch geschulte Fachkräfte.„Allein das Erinnern wühlt die Menschen auf“, stellte Landrat van der Horst fest. Es sehe so aus, als wenn der Täter keine Verurteilung erfahren werde. „Das führt leider auch nicht zur Beantwortung der Frage nach dem Warum“, so van der Horst weiter. Dabei sei es für die Betroffenen so wichtig, dass es da Klarheit gebe. Ausdrücklich lobte der Landrat die vielfältigen Betreuungsangebote für die Opfer. An erster Stelle seien hier die Rettungskräfte in Berlin zu nennen, die vorbildlich geholfen hätten. Das hätten ihm die Schüler erichtet.

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Bürgermeister Marko Lambion sprach von einer grausamen Tat, die den Menschen in Bad Arolsen in die gemeinsame Erinnerung übergegangen sei. Die damals eingerichtete Betreuungsstelle im Arolser Rathaus bestehe noch immer und vermittle Kontakte zur Opferschutzbeauftragten nach Wiesbaden, wann immer dies nötig sei.

Der Arolser Bürgermeister verbindet mit dem Prozessbeginn die Hoffnung, dass die Tat endlich sensibel für die Opfer aufgearbeitet werde. Bei dem Prozess sollten nach Möglichkeit auch die Bedürfnisse der unmittelbar Betroffenen und ihrer Angehörigen im Mittelpunkt stehen.