Hochsauerland. Im Buch zum Kulturprojekt „Stadt.Land.Text“ wirft die preisgekrönte Journalistin und Autorin Tanja Maljartschuk einen Blick auf das Sauerland.

Stadt, Land, Fluss“ – ein Kinderspiel. Kennt jeder. „Stadt.Land.Text“ – eine Herausforderung. Kennen nicht so viele. Alle zwei Jahre kommen zehn Schriftsteller/innen für vier Monate in die zehn Kulturregionen NRWs. Eine dieser Regionen ist das Sauerland. Es geht darum, dass Menschen von außen einen Blick auf die Region werfen und diese Eindrücke im Stil eines Stadtschreibers/einer Stadtschreiberin aufs Papier bringen. Dinge, Bräuche, Rituale, Lebensweisen, die uns vertraut sind, gewinnen durch die Brille von außen eine ganz neue Dimension. Nachzulesen sind diese „10 literarischen Perspektiven auf NRW“ in Buchform, das beim Kulturbüro Sauerland in Meschede erhältlich ist. Drei Kapitel sind dem Sauerland gewidmet: Gespräche mit Wolfgang, Spione und Heilwasser.

Das Buch zum Projekt „Stadt.Land.Text“ ist beim Kulturbüro Sauerland im Mescheder Kreishaus erhältlich.
Das Buch zum Projekt „Stadt.Land.Text“ ist beim Kulturbüro Sauerland im Mescheder Kreishaus erhältlich. © WP | wp

Sogenannte Residentin für das Sauerland war die mehrfach ausgezeichnete Journalistin und Schriftstellerin Tanja Maljartschuk (Jahrgang 1983), die aus der Ukraine stammt und in Wien lebt. „Das erste Mal habe ich sie in einer Talk-Show im Fernsehen gesehen - u. a mit Jürgen Trittin und anderen europäischen Politikern. Die Situation in der Ukraine spitzte sich zu. Und sie wurde gefragt, ob sie sich Sorgen mache um die Entwicklung der Energiepreise. Ihre Antwort: Ich habe keine Ahnung von Öl- und Gaspreisen. Ich bin in tiefer Sorge um 40 Millionen Menschen, die um ihr Leben bangen“, erzählt Wolfgang Meier. Der Olsberger ist zusammen mit Cornelia Reuber beim HSK für das regionale Kulturprogramm der Region Sauerland zuständig und hat die Residentin bei ihrem Besuch kennengelernt und begleitet.

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Stipendium mit Hindernissen

Es war ein Stipendium mit Hindernissen. Drei Jahre hatte sie in Archiven über den Zweiten Weltkrieg, über jüdische Gemeinden im Sauerland und über Zwangsarbeit recherchiert: „Und jetzt ist ein anderer Krieg ausgebrochen. Und obwohl ich mich nicht in der Ukraine befinde, bin ich eines seiner Opfer. Auf einmal wurde mein zusammengetragenes Wissen über das vergangene Leid zu einem Spiegel, in dem die brutale Gewalt ihr Abbild sucht“, schreibt die Autorin. Fast wäre das Projekt der Kulturschreiberin in Tränen, Trauer, Bombenhagel und Zerstörung untergegangen. Wäre damit nicht auch im Klitzekleinen die Rechnung des russischen Aggressors aufgegangen?

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„Tanja hat Anfang Februar gesagt: Ich kann nicht kommen. Ich kann nicht schreiben. Ständig hat sie Kontakt zu Freunden in der Ukraine gehalten. Und wenn das Handy im Sauerland klingelte, waren es oft keine guten Nachrichten. Aber die Aufenthalte hier haben ihr trotz allem gut getan“, sagt Wolfgang Meier. In der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ hatte Tanja Maljartschuk erst vor wenigen Tagen einen großen Gastbeitrag über den Albtraum des Krieges in der Ukraine und Hoffnungen auf das Leben danach. Umso beeindruckender, dass ihr der Blick auf das Sauerland zumindest etwas Zerstreuung und Ablenkung beschert hat - trotz der omnipräsenten Kriegs-Angst-Schere im Kopf, die immer wieder literarische Bezüge zwischen der Ukraine und dem Hier und Jetzt im Sauerland erstellt.

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Beispiel: Sauerländer Weihnachtsbäume: „Die Bäumchen, die wir hinter der Einzäunung sehen, sind noch ganz klein, ein, zwei Jahre alt, sozusagen die jüngste Gruppe im Weihnachtsbaumkindergarten, bei denen man nicht mit Pestiziden spart. Die Bäume werden nach sieben Jahren geschlagen direkt nach Schuleintritt. Ich sage dem Sauerländer, dass ich Weihnachten mag und mir jedes Jahr in Erinnerung an meine Oma einen kleinen Weihnachtsbaum kaufe auch wenn das umweltschädlich ist. Zu Weihnachten siegt die brennende Nostalgie über den gesunden Menschenverstand und das Umweltbewusstsein…“ Und weiter: „Die hiesigen Hügel erinnern mich an die Vorkarpatenlandschaft, in der ich den größten Teil meiner Kindheit verbracht habe. Die Hügel sind träge, man sieht ihnen an, dass sie nicht weiter wachsen wollen. Wie Narben von Peitschenhieben legen sich hier und da die Schneisen der Borkenkäferkahlschläge auf sie…“

Olsberger Kneippfiguren

Beispiel Kneippfiguren in Olsberg: „Um Kneipp kommt man in Olsberg nicht herum. Selbst wenn man wollte: An jeder Ecke stößt man auf eine Gipsplastik des gebückten Geistlichen mit seinem Birett. Der Priester streckt, meiner Meinung nach ziemlich aufreizend, sein linkes Bein unter der Soutane hervor und begießt es mit Heilwasser aus einem Krug. Insgesamt 35 dieser Plastiken, die alle die gleiche Form haben aber in verschiedenen Farben bemalt sind, hat man im Parkanlagen entlang der Straße an Weggabelungen, vor Friseurgeschäften und Bäckereien aufgestellt, die sind einfach überall. Manche haben keine Arme mehr. Die versehrten Kneippfiguren rühren mich besonders an, denn ich bin auch versehrt. Der Sohn meiner Freundin ist im Krieg gefallen. Um Mitternacht, wenn ich nicht schlafen kann, laufe ich durch die menschenleeren Straßen, am Bachufer grüße ich Kneipp Nummer 24 und steige bis zum Knöchel in das eiskalte Wasser genauso wie das Doktor Grünes Patienten vor 100 Jahren taten das Wasser halt noch immer, wie damals.“…

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Die Texte von Tanja Maljartschuk sind in der „Stadt.land-text“-Zusammenfassung übrigens im ukrainischen Original und in der deutschen Übersetzung von Claudia Dathe abgedruckt. Auch die anderen literarischen Perspektiven u.a. auf die Region Hellweg oder das Münsterland sind lesenswert – es kommt halt immer auf die Blickwinkel an.